Es war einmal eine kleine Pusteblume, Pustel hieß sie. Pustel war eine sehr fröhliche Pusteblume, die sich gerne der Sonne entgegen streckte. Sie liebte es, die warmen Sonnenstrahlen auf ihren kleinen, einzelnen Schirmchen zu spüren.
Pustel lachte oft, selbst bei Regen; wenn der Regen auf ihre grau-weißen Schirmchen prasselte, fühlte es sich an, als ob der Regen sie massiere. Pustel konnte dabei wunderbar entspannen und einschlafen.
Pustel hatte viele Geschwister auf ihrer Wiese. Durch ihre freundliche und liebevolle Art hatte sie auch viele Tierfreunde. Oft unterhielt sie sich mit den Regenwürmern, die an ihr vorbei krochen oder den Hasen, die an ihr vorbei hoppelten. Manchmal kamen auch Menschen an ihrer Wiese vorbei. Pustel selbst hatte noch keine aus der Nähe gesehen.
Ihre Geschwister hatten ihr erzählt, dass Menschen gerne Pusteblumen pflücken, um ihre Schirmchen für einen Wunsch weg zu pusten. Pustel verstand zwar nicht, wie ihre Schirmchen Wünsche erfüllen konnten, doch fand sie diesen Gedanken schön. Pustel hatte auch davon gehört, dass der Wind Schirmchen davontragen würde. Dies sei wichtig, sagte man Pustel, damit weitere Geschwister von ihnen auf anderen Wiesen wachsen konnten.
Bis jetzt hatte der Wind noch kein Schirmchen von ihr davongetragen, was Pustel traurig machte, denn sie hatte einen eigenen, ganz besonderen Wunsch. Pustel wünschte sich, den ganzen Sommer lang zu leben, bevor man sie weg pusten oder sie mit ihren ganzen Schirmchen davonfliegen würde; sie wusste, dass Pusteblumen nur kurze Zeit auf Wiesen stehen.
Pustel liebte das Leben sehr; die Sonne, den Regen und auch den Geruch der Erde am Morgen und am Abend. Sie wünschte sich, diese Momente so lange wie möglich fühlen und wahrnehmen zu können. Ihre Geschwister verstanden ihren Wunsch nicht. Sie waren der Ansicht, dass es die Aufgabe von Pusteblumen ist, Menschen glücklich zu machen und anderen Pusteblumen das Leben zu schenken. Sie hatten keine Wünsche für sich. Pustel konnte ihre Geschwister nicht verstehen, sie hielt an ihrem Wunsch fest.
Es vergingen Monde und Sonnen, manche ihrer Geschwister waren schon gepflückt, weg gepustet oder ganz vom Wind davon getragen worden. Pustel lebte noch auf ihrer Wiese und genoss mit Freude die Momente, die ihr gegeben wurden. Sie hoffte, dass sie ihre Schirmchen noch lange behalten würde oder sie sich etwas vom Wind wünschen konnte; ihren Wunsch. Einen Menschen aus der Nähe hatte Pustel bis dahin immer noch nicht gesehen.
Eines Tages, an einem frühen Morgen, sah sie einen alten Mann kommen, der auf sie zuging. Der Mann hatte ein trauriges und blasses Gesicht. Er setzte sich neben Pustel und weinte bitterlich. Pustel beobachtete ihn, ihn weinen zu sehen, machte sie ganz traurig. Sie beschloss, ihn zu fragen, warum er so traurig ist: „Hallo, ich bin Pustel. Es tut mir leid, dass du so traurig bist. Kann ich etwas für dich tun, damit es dir wieder besser geht?“ Der alte Mann fuhr überrascht hoch und sah Pustel verwundert an. Er wischte sich die Reste seiner Tränen mit dem Ärmel seines Hemdes ab, lächelte und antwortete: „Hallo Pustel, du schöne kleine Pusteblume. Du hast recht, ich bin sehr traurig, doch ich glaube nicht, dass du etwas für mich tun kannst“. Der alte Mann tat Pustel leid, sie wollte ihm helfen, ihn wieder lachen sehen, daher fragte sie ihn: „Warum bist du so traurig, was ist passiert?“ Der alte Mann starrte ins Leere, er wirkte nachdenklich. „Meine Frau ist sehr krank“, erzählte er, „Ich tue alles, damit es ihr besser geht, doch sie wird immer schwächer. Ich habe große Angst sie zu verlieren. Keiner kann mir helfen. Ich wünsche mir so sehr, dass es ihr wieder besser geht“. Pustel lächelte, sie dachte an ihre Schirmchen und erklärte dem alten Mann: „Nun, ich bin doch eine Pusteblume, wenn du meine Schirmchen weg pustest und dir dabei etwas wünschst, wird deine Frau vielleicht wieder gesund“. Der alte Mann schaute Pustel an, seine Augen blitzten vor Freude auf. Zögerlich erwiderte er: „Pustel, wenn ich deine Schirmchen weg puste, dann hast du keine mehr. Ich möchte dir nicht all deine Schirmchen nehmen, nachher frierst du noch im Regen“. Pustel versuchte den alten Mann zu beruhigen: „Pusteblumen sind dafür da, Menschen glücklich zu machen und anderen Pusteblumen das Leben zu schenken. Es macht mir nichts aus, Schirmchen zu verlieren. Du darfst über meinen Schirmchen pusten, nur pflücke mich bitte nicht“. Der alte Mann strich liebevoll über die Schirmchen von Pustel, seine Augen glänzten voller Dankbarkeit. „Nun gut Pustel“, sagte er, „Ich puste ein paar von deinen Schirmchen weg, doch ich pflücke dich nicht“. Der alte Mann pustete sanft über Pustel, sein Atem kitzelte sie. Ein paar Schirmchen lösten sich und flogen davon. Pustel und der alte Mann schauten ihnen hinterher. „Pustel, ich danke dir. Mir geht es schon viel besser. Ich werde nun nach Hause zu meiner Frau gehen und darauf hoffen, dass sie wieder gesund wird. Ich komme dich besuchen, zusammen mit meiner Frau. Ich danke dir Pustel. Bis bald“; Pustel und der alte Mann verabschiedeten sich.
Pustel betrachtete ihr Kleid; mit weniger Schirmchen sah es anders aus als sonst, doch das störte sie nicht. Sie hatte nun verstanden, was ihre Geschwister ihr einst sagen wollten: „Anderen zu helfen, ihnen ihre Wünsche zu erfüllen, macht einen selbst glücklich. Glücklicher, als eigenen Wünschen nachzugehen“. Pustel freute sich, dem alten Mann geholfen zu haben. Sie lächelte. „Hoffentlich kann ich noch einem Menschen einen Wunsch erfüllen“, dachte Pustel bei sich. Sie schloss ihre Augen und sonnte sich.
Einige Zeit später, am frühen Nachmittag, hörte Pustel aus einiger Entfernung eine Frau laut schimpfen. Sie öffnete die Augen und drehte sich um. Die Frau kam näher. Sie sah verärgert aus. Ihre Augen waren verkniffen, ihr Mund wirkte hart und verbissen. Die Frau schimpfte weiter und ließ sich neben Pustel nieder. Pustel beschloss, die Frau zu fragen, was sie verärgert hatte. „Hallo, ich bin Pustel“, begrüßte sie die Frau, „Du schimpfst ganz laut und du wirkst verärgert. Was ist passiert, vielleicht kann ich dir helfen?“.
Die Frau hörte auf zu schimpfen, sah Pustel überrascht an und antwortete: „Hallo Pustel. Lieb, dass du fragst. Du hast recht, ich bin sehr wütend. Meine ganze Ernte ist durch eine Käferplage verdorben. Ich habe alles probiert, doch die Käfer hören nicht auf, meine Felder zu zerstören. Wenn das so weiter geht, verdiene ich den ganzen Sommer über kein Geld. Dann kann ich die Pacht nicht bezahlen und verliere meinen Hof. Doch, liebe Pustel, wie könntest du mir helfen?“
Pustel war ganz aufgeregt vor Glück, sie konnte einem Menschen einen Wunsch erfüllen. Sie erklärte der Frau: „Ich bin doch eine Pusteblume, meine Schirmchen erfüllen Wünsche, wenn du sie weg pustest“. „Pustel, dass ist eine tolle Idee“, sagte die Frau, „Doch, wenn ich deine Schirmchen weg puste, dann hast du keine mehr und verbrennst in der Sonne. Das möchte ich nicht“. Pustel überlegte, sie dachte an ihren Wunsch, den ganzen Sommer lang leben zu wollen zurück; doch sie entschied sich, der Frau zu helfen, denn sie war eine Pusteblume: „Puste nicht alle meine Schirmchen weg und pflücke mich nicht; so kann ich noch ein bisschen auf meiner Wiese stehen kann. Ich möchte die letzten Sonnenstrahlen meines Lebens genießen“, sagte Pustel zu der Frau. Die Frau war ganz gerührt, Tränen liefen über ihr Gesicht. „Nun gut Pustel, ich will ganz vorsichtig über deine Schirmchen pusten und mir etwas wünschen“, flüsterte sie. Die Frau beugte sich behutsam über Pustel, öffnete leicht ihren Mund und pustete über die Schirmchen von Pustel. Ein paar lösten sich und flogen davon. Pustel und die Frau schauten ihnen hinterher. „Vielen Dank Pustel, ich gehe jetzt nach Hause und versuche, die Käfer von meinen Feldern zu vertreiben. Ich besuche dich bald wieder. Pass gut auf dich auf“. Mit diesen Worten verabschiedete sich die Frau von Pustel.
Pustel betrachtete erneut ihr Kleid. Es hatte noch weniger Schirmchen als vorher. Pustel fühlte sich nackt und zum allerersten Mal bekam sie etwas Angst. Sie wusste, dass sie bald keine Schirmchen mehr hatte; dann würde sie nicht mehr auf ihrer Wiese stehen. „Doch ich habe andere glücklich gemacht, das ist alles was zählt“, dachte Pustel bei sich. Ihren eigenen Wunsch hatte Pustel vergessen. Sie schloss ihre Augen, um ihre letzten Sonnenstrahlen zu genießen. Pustel schlief in der Sonne, glücklich wie immer. Sie träumte davon, mit ihren letzten Schirmchen einem anderen Menschen einen Wunsch zu erfüllen oder vom Wind davon getragen zu werden, um anderen Pusteblumen das Leben schenken zu können.
Pustel wurde von einem lauten Lachen geweckt, schläfrig öffnete sie die Augen. Es war später Nachmittag, die Sonne stand tief. Pustel sah ein kleines Mädchen auf sie zu rennen. Das Mädchen lachte fröhlich, ihr Haar wippte beim Rennen hin und her. Pustel war von diesem Mädchen ganz entzückt. Daher wollte sie dem kleinen Mädchen mit ihren verbliebenen Schirmchen einen letzten Wunsch erfüllen. „Hallo“, sprach Pustel das Mädchen an, „Ich bin eine Pusteblume, wenn du an meinen Schirmchen pustest, dann kannst du dir etwas wünschen“. Das Mädchen sah Pustel neugierig an. Dann lächelte und beugte sich über Pustel. „Hallo Pustel, ich bin Isabell. Ich weiß, was eine Pusteblume ist. Du siehst aber ganz anders aus, wie die Pusteblumen, die ich kenne. Wo sind denn deine Schirmchen hin?“ Pustel antwortete: „Die sind von Menschen weg gepustet worden, die sich etwas von mir gewünscht haben. Einen Wunsch kann ich noch erfüllen, ich möchten ihn gerne dir schenken“. Isabell sah Pustel an, in ihren Augen sammelten sich kleine Tränen, sie flüsterte: „Aber Pustel, wenn ich mir jetzt etwas von dir wünsche und deine Schirmchen weg puste, dann hast du keine mehr. Dann bist du ganz nackt und du kannst nicht mehr auf deiner Wiese stehen, um die warme Sonne zu genießen“. Pustel dachte nach, Isabell hatte recht, doch sie wollte das Mädchen glücklich machen, denn das war ihre Aufgabe als Pusteblume. „Das macht mir nichts Isabell, ich habe viele Sonnen genossen und gerne gelebt. Ich bin bereit, mit meinen Schirmchen für einen Wunsch oder neues Leben davon zu fliegen. Pflück mich Isabell und wünsch dir was“.
Isabell sah Pustel an, sie dachte nach. Plötzlich lachte sie und sagte: „Pustel, ich habe eine Idee. Ich wünsche mir etwas für dich. Es gibt doch bestimmt einen Wunsch, den du hast. Ich brauche nichts und es würde mich glücklich machen, dir einen Wunsch erfüllen zu können. Pustel war von Isabells Mitgefühl ganz gerührt, ihr wurde ganz warm um ihre Schirmchen.
Pustel wurde klar, dass sie durch Isabell etwas Wichtiges gelernt hatte. Sie hatte gedacht, dass es ihre Aufgabe sei, andere glücklich zu machen; dass sie eigene Wünsche dafür zurückstellen muss. Doch Glück entsteht durch ein Geben und ein Nehmen; es macht glücklich, anderen etwas zu geben, doch man darf auch Dinge von anderen nehmen, sich selbst etwas vom Leben wünschen.
Pustel dachte über ihren Wunsch nach. Sie wollte ihn nicht länger zurückhalten und beschloss, Isabell von ihrem Wunsch zu erzählen: „Ich habe einen großen Wunsch. Ich möchte einen Sommer lang auf meiner Wiese stehen, um das Leben zu fühlen; die Sonne, den Regen und auch den Wind. Das Leben ist so wunderbar, ich liebe es.“ Isabell lachte und klatschte in ihre Hände. „Pustel, so machen wir es. Ich puste sanft deine letzten Schirmchen weg und ich wünsche mir etwas für dich, doch ich pflücke dich nicht. Bist du bereit Pustel?“, fragte Isabell. Pustel nickte.
Isabell öffnete leicht den Mund und flüsterte leise „Pustel, ich wünsche mir für dich deine Schirmchen zurück, damit du einen Sommer lang auf deiner Wiese stehen kannst“. Dann pustete Isabell ganz leicht über ihre Schirmchen. Pustel schloss die Augen. Sie spürte, wie der sanfte Hauch von Isabell ihre letzten Schirmchen davon trug. Pustel war in diesem Moment glücklich; so, wie sie es in allen anderen auch gewesen war. Sie war dankbar, für all die Momente, die sie erlebt hatte und, dass sie gelernt hatte, was Glück bedeutet. Pustel wusste nun, dass sie auf einer anderen Wiese in ihren Geschwistern weiterleben würde – darauf freute Pustel sich, denn sie hatte sehr gerne gelebt; Pustel hatte ihr Leben geliebt.
Schööööön, so unendlich schön 🌈.
Wir werden in Liebe geboren und werden mit Liebe sterben, doch zwischendrin ist die Liebe das Einzige was sich vermehrt, wenn man sie verbraucht 💞.
Wieder mal ein Meiszerinnenwerk deiner zauberhaften Schreibkunst ✒🌟.
Danke, Lene, danke 🙏.
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Danke. Ich freue mich, dass es dir gefällt. Ja, das dachte ich mir auch dabei. Danke noch mal. 🤗💕
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Das Glück der Selbstlosigkeit, und des Annehmenkönnens. Und ein Teil von uns lebt nach uns weiter, in dem wir bei Anderen etwas bewirkt haben. Assoziation: Zeit, „Ist das Leben nicht schön?“ von Frank Capra noch einmal zu schauen. Liebe Grüße, Bernd
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Hallo Bernd, danke für deinen Kommentar. 🤗 Ja, stimmt. Danke für den Tipp. Liebe Grüße 😊
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Was für eine schöne Geschichte!
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Ganz lieben Dank Werner!
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So eine schöne Geschichte – sie hat mich sehr berührt (und zu Tränen gerührt).
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Ganz lieben Dank für deine Worte. 🤗 💕 Es freut mich sehr, dass sie dir gefallen hat. Liebe Grüße an dich!
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