Teestunde

„Tante Petra, trinken wir Tee zusammen?“ Lotte liebte es, Teestunde zu spielen. Stundenlang saß sie mit ihren Puppen an ihrem Kindertisch, führte Selbstgespräche, trank Tee und aß Kuchen.

Lotte blickte Petra mit ihren großen blauen Augen erwartungsvoll an und lächelte. Petra seufzte innerlich. Der Gedanke, sich auf einen Kinderstuhl quetschen zu müssen, auf dem man sinnfreie Gespräche führte und Lufttee bzw. -kuchen aß, löste Unbehagen in ihr aus. Petra konnte solchen Phantastereien nichts abgewinnen. Für sie zählten die harte Realität, alles andere war Zeitverschwendung. „Tante Petra, bitte.“ Den blauen Augen von Lotte, die sie nun flehend ansahen, konnte Petra nichts abschlagen. „Ach was soll’s“, dachte sie.

Viele ihrer beruflichen Meetings verbrachte sie auf zu unbequemen Stühlen. Meistens waren die Gespräche auf diesen Treffen sinnlos und ihr Interesse geheuchelt. Glücklich war im Anschluss niemand. Nicht einmal ihr Chef. Lotte war ihre Nichte. Eine halbe Stunde die Teetante zu spielen, würde sie nicht umbringen. „Ok Lotte. Eine halbe Stunde.“ „Ja“, jauchzte Lotte.

10 Minuten später saßen Petra und Lotte am Kindertisch. Lotte goss imaginären Tee ein. „So Emily, für dich“, sagte sie zu einer ihrer Puppen. Petra bereute bereits ihre Entscheidung. Ihr Rücken tat ihr vom Sitzen auf dem zu kleinen Stuhl weh und ihre Finger krampften von den zu kleinen Kindertassen. „Hmm, lecker Erdbeertee.“ Lotte schlürfte geräuschvoll von ihrer Tasse. „Und ein Stück vom Kuchen. Du auch, Tante Petra.“

Petra lächelte leicht, nahm einem Schluck aus ihrer Tasse und aß vom Kuchen. „Der Kuchen schmeckt gut oder? Emily findet ihn auch lecker. Das hat sie eben gesagt.“ „Ja, lecker“, antwortete Petra genervt. „Das stimmt gar nicht, was du sagst“, Lottes Mine verfinsterte sich. „Du hast den Kuchen und den Tee gar nicht probiert. Du tust nur so.“ Petra war baff. Ein kleines Mädchen hatte ihr Schauspiel durchschaut, während ihr Chef und ihre Kollegen ihr auf den Leim gegangen waren. Oder war Lotte einfach nur mutig genug, sie darauf anzusprechen?

„Ach Lotte, wir trinken weder Tee noch essen wir Kuchen. Wir tun nur so.“ „Doch, wohl. Du siehst es nur nicht.“ „Was soll ich denn sehen Lotte? Wir spielen, das ist alles nicht echt.“ „Du machst das falsch. Du musst die Augen schließen und an Tee mit Kuchen denken. Dann siehst und schmeckst du sie. Ich mache das oft. Auch Draußen. Ich schließe die Augen und denke an Feen. Bis ich sie sehe. Es macht Spaß, Tante Petra. Es wäre doof, ohne Feen, Teestunden und meinen Puppen, die mir alles erzählen.“

Petra lachte. Lotte, ein sechsjähriges Kind, brachte ihr komplettes Weltbild durcheinander. „Vielleicht probiere ich es aus“, schlussfolgerte Petra. Es gäbe weitaus Schlimmeres, als eine Fee zu sehen. „Na gut Lotte.“ Petra schloss die Augen und dachte an Tee mit Kuchen. „Riechst du den Erdbeertee und siehst du den Kuchen?“ Petra atmete langsam ein und aus. Sie konzentrierte sich auf den Geruch von Erdbeeren und dachte an den Geschmack ihres Lieblingskuchens. Die Realität wurde mit jedem Atemzug kleiner. Ihre Zweifel auch. Plötzlich lächelte Petra. Der Duft von frischen Erdbeeren und frisch gebackenen Kuchen hing in der Luft. „Und Tante Petra?“, fragte Lotte gespannt. Petra öffnete die Augen. „Ich habe Lust auf Erdbeertee und Käsekuchen.“ Lotte jauchzte.

Petra nahm sich nach einem Schluck Erdbeertee und einem Stück Käsekuchen vor, öfter an Feen zu denken. Petra hatte von Lotte gelernt, dass Phantastereien phantastisch geeignet sind, um das Leben mit seiner oft harten Realität bunter zu machen. Manchmal können sie auch helfen, die Realität zu ändern. „Vielleicht muss man erst träumen, um es ändern zu können“, dachte Petra; von einem Chef zum Beispiel, der Meetings strukturiert abhält. Sie müsste nur mutig genug sein, ihren Traum laut auszusprechen, um ihn leben zu können; so wie es ein kleines Mädchen heute bei ihr getan hat. Wer weiß, welche Träume sie noch finden konnte, um ihre eigene Realität kreieren zu können, dachte Petra. Sie freute sich darauf.

Veröffentlicht von Lene

Ich würde mich als emphatische und entspannte Person bezeichnen, die versucht, ihre Erlebnisse in Wort und Schrift darzustellen. Also alles was mein Herz in irgendeiner Art und Weise berührt, verarbeite ich schriftlich. Ich bin kein Meister der Poesie. Manches mag sich holprig anhören, aber so ist mein Schreibstil. Ich bin auch nicht festgelegt auf eine Art von Text, jedenfalls noch nicht. Ich probiere gerne mal aus, dass merkt man auch an meiner Website: Sie ist recht bunt. Ich denke gerne bunt, denn für mich ist es das Leben auch. Mich freut es einfach, wenn der ein oder andere etwas mit meinen Texten anfangen kann oder sich vielleicht sogar darin wiederfindet. Viel Spaß beim Lesen. Und danke für euren Abstecher in meine kleine, bunten Welt. Vielleicht bis bald. 🤗 Lene

2 Kommentare zu „Teestunde

    1. Ganz lieben Dank Gisela. Freue mich, dass dir die Geschichte gefällt. Danke auch, für jeden deiner Kommentare.
      ❤️❤️

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