Kuss

Der kleine Kai

Kai ist mit 8 Jahren der jüngste von seinen Geschwistern. Bettina ist 12 und Jürgen 16. Neben ihnen fühlt er sich wie ein Zwerg. Sie können besser Fahrrad Fahren und Schwimmen als er. Er übt, ohne Stützräder zu fahren, doch fällt immer wieder hin. Und ohne Schwimmflügel will er nicht ins Wasser gehen. „Angsthase, Pfeffernase. Traust dich ja doch nicht“, hänseln in seine älteren Geschwister. „Lasst Kai in Ruhe. Er ist noch klein“, sagen seine Eltern. Er blickt ins Wasser und sieht seinen schmächtigen Körper mit den übergroßen Schwimmflügeln. Er ist sich sicher, dass alle ihn auslachen, wenn sie ihn ansehen. Selbst sein Spiegelbild. Er beschließt seine Schwimmversuche aufzugeben. Auch das Fahrrad Fahren, was ihm großen Spaß gemacht hat, lässt er sein. 

Mit der Zeit fühlt sich Kai immer kleiner. Immer wenn er sich im Spiegel sieht, flüstert eine innere Stimme zu ihm: „Schau dich an. Wie soll ein Winzling wie du jemals Schwimmen oder Fahrrad Fahren lernen können.“ Betrübt lässt er seinen Kopf hängen und fühlt sich noch schlechter. Er gibt der inneren Stimme Recht und beginnt, sich in Frage zu stellen. „Was kann ich überhaupt? Ich bin in nichts außerordentlich gut und habe keine besondere Begabung.“ Er beobachtet seine Freunde, die in seinen Augen alle größer und besser sind als er, weil sie etwas besonders gut können. Peter schnitzt tolle Figuren aus Holz, mit denen er mit seinem Vater Schach spielt. Hans kann freihändig Handstand und beeindruckt damit die Mädchen in der Klasse. Kai stellt im Vergleich mit seinen Freunden schmerzhaft fest, dass er weder besonders kreativ noch sportlich ist. Er hat keine Kraft in den Armen und ist seiner Meinung nach ungeschickt. Er plumpst beim Geräteturnen zu Boden und beim Basteln schneidet er schief. 

Kai wird immer mutloser und kritischer mit sich selbst. Er probiert sich nicht mehr aus und bewertet zunehmend seine Leistungen schlecht. Seine Bilder sind nicht bunt genug und seine Geschichten zu langweilig. Er wird immer betrübter und zieht sich zurück, weil er der Meinung ist, dass ihn andere nicht mögen können. „Was sollen sie mit einem langweiligen Kerl wie mit mir. Der Hans hat letztens schon komisch geguckt, als ich beim Purzelbaum mal wieder zur Seite gekippt bin. Der hat sich bestimmt bei Peter über mich lustig gemacht. Wahrscheinlich mögen mich beide nicht, wollen es mir aber nur nicht sagen.“

Mittlerweile fühlte sich Kai ganz allein. Er verbringt seine Schulpausen allein, geht nicht mehr auf Kontaktversuche von seinen Freunden ein und spielt mittags nicht mehr mit ihnen. Oft sitzt er bedrückt am Esszimmertisch. Wenn man ihn fragt, ob alles in Ordnung ist, bejaht er das. Dabei fühlt er sich immer kleiner und kleiner, fast schon unsichtbar. Doch er weiß nicht, wie er ausdrücken soll, was er fühlt. Also bleibt er allein, mit seiner inneren Stimme, die ihn zunehmend belastet und traurig macht. 

Eines abends, überwältigt von seinen Gefühlen, weint er in sein Kopfkissen. „Ich bin total unwichtig, weil ich nichts gut kann und langweilig bin. Alle anderen sind besser und wichtiger als ich. Wenn es doch nur einen Menschen geben würde, dem ich mich anvertrauen könnte. Jemand, der mich versteht.“ Nach dem vielen Weinen ist er total erschöpft und schläft ein. 

In der Nacht wird er von einem Geräusch geweckt. Der Holzboden knarrt. Erschrocken öffnet Kai seine Augen. Was war das? Er lauscht in die Stille. Es ist nichts mehr zu hören. „Ich muss geträumt haben.“ Nachdem er die Augen wieder schließt, knarrt es erneut. Er setzt sich gerade auf und fühlt sein pochendes Herz. „Hallo? Ist da jemand?“ Kai umklammert seine Decke. Er sieht einen kleinen Schatten an seinem Bett sitzen, der größer und größer wird. Zwei freundlich aussehende Augen blitzen darin und ein kleines rotes Herz kommt zum Vorschein, das pulsiert. Zunehmend nimmt die Gestalt die Umrisse einer menschlichen Gestalt an. Sie rückt näher zu ihm und stellt sich vor. „Hallo Kai, ich bin Liebesfried.“ „Woher weißt du meinen Namen?“ „Ich weiß immer die Namen der Menschen, die mich brauchen.“ „Wie meinst du das?“ Du hast mich gerufen und nun bin ich hier.“ Die Gestalt breitet einladend seine Arme aus. Ihr Herz pulsiert noch stärker und strahlt Wärme aus. Ohne zu wissen warum, wirft sich Kai in die Umarmung und weint hemmungslos. Diesmal tut ihm das Weinen gut. Es löst all den Schmerz und aufgestauten Gefühle. Mehrere Minuten vergehen, bis er sich wieder aus den Armen der Gestalt löst. Er wischt sich die Augen trocken und schnieft. Sein Gefühlsausbruch ist ihm unangenehm. Noch nie hat er sich jemanden anvertraut.. „Gräme dich nicht Kai. Weinen tut manchmal gut. Wir dürfen uns unsere Gefühle erlauben. Hier ein Taschentuch.“ Die Gestalt streichelt ihm über dem Kopf, während er sich die Nase putzt. „Nun erzähl mir, was dich bedrückt.“ 

„Nun, ich bin ganz klein. Nichts kann ich gut. Alle anderen sind besser als ich.“ „Wer sagt das?“ „Na alle.“ „Wirklich?“ Kai überlegt. „Hmm, naja, ich sehe, wie andere mich anschauen und beobachte ihr Gesicht. Darin lese ich, dass sie sich über mich lustig machen und mich nicht mögen.“ „Also glaubst du es zu wissen, weil du es siehst?“ „Wie meinst du das?“ „Keiner sagt dir, dass du klein bist und nichts kannst. Du liest es in den Gesichtern anderer und nimmst es deswegen so wahr.“ „Das stimmt nicht. Meine Mama sagt immer, dass ich klein bin. Und meine Geschwister ärgern mich deswegen.“ „Meinst du denn, dass sie es böse meinen? Oder wollen sie dich vielleicht nur in Schutz nehmen und vielleicht auch ein wenig ärgern, wie es bei Geschwistern üblich ist? Ist es denn wirklich immer so?“ Kai überlegt erneut. Darüber hat er noch nie nachgedacht. Häufig sucht er nach Anzeichen, die bestätigen, dass er klein ist und nichts kann. Auf einmal findet er es unangenehm, dass er nur nach dem Schlechtem in seinem Leben sucht. Sein Bauch zieht sich zusammen und sein Herz schlägt schnell. „Also, eigentlich ist es nicht immer so. Meine Mama sagt immer, dass ich für mein Alter schon sehr gut zeichnen kann. Und sie mag meine Geschichten. Selbst meine Geschwister lesen sie gerne. Irgendwie habe ich das ganz vergessen. Jetzt fühle ich mich schlecht, weil ich nicht gut von meiner Familie gesprochen habe.“ „Das musst du nicht. Es passiert häufig, dass wir das Gute in unserem Leben vergessen. Dann brauchen wir jemanden, der uns daran erinnert und uns zeigt, woher es wirklich kommt, dass wir nur das Schlechte sehen und traurig sind. Was meinst du, woher es kommt, dass du dich so klein und unbedeutend fühlst?“ „Mein Spiegelbild sagt es mir.“ „Aha, und?“ „Und eine Stimme, die in mir flüstert. Sie sagt oft, dass ich die Dinge nicht so gut wie meine Freunde mache und nichts gut kann. Dann sehe ich immer meine Bilder an und finde sie blöd. Auch meine Geschichten mag ich dann nicht mehr. Wenn ich dann noch mal in den Spiegel schaue, sehe ich nur den kleinen schmächtigen Kai, der nichts kann und in nichts gut ist. Dann flüstert die Stimme noch lauter.“ „Das was du beschreibst, geht vielen Menschen so.“ „Wirklich, ich bin nicht allein damit?“ „Nein.“ „Und wie ändere ich das? Ich möchte mich nicht mehr so fühlen und will auch wieder rausgehen. Mit Freunden spielen, malen, schreiben, Fahrrad Fahren und Schwimmen üben, ohne, dass ich ständig Angst habe, nicht gut genug zu sein und andere deswegen über mich lachen.“ „Das ist eine gute Idee Kai. Du bist ein toller Junge mit vielen Talenten. Ich helfe dir gerne dabei, dass zu erkennen und dich selbst zu finden.“ „Wen finden?“ „Ich erkläre es dir. Schau, du sprichst von deinen Freunden, die alle etwas gut können. Vielleicht besser als du. Deswegen bist du traurig und machst dich selbst klein. Du bewertest dich, weil du dich vergleichst.“ „Tut das nicht jeder?“ „Nicht zwangsläufig. Besser ist es, sich auf sich zu konzentrieren. Du kannst gut Malen und Geschichten schreiben. Das können andere nicht. Wenn sie sich nun mit dir vergleichen, sind sie ebenso unglücklich, wie du es bist. Verstehst du was ich meine?“ „Vergleichen macht unglücklich?“ „Genau, und?“ Ich bin ich und gut wie ich bin?“ „Du hast es erkannt.“ „Schön und gut, aber wie soll ich mich im Alltag daran erinnern?“ Die Gestalt reicht Kai die Hand. „Komm, ich zeige es dir.“ Voller Vertrauen greift er nach der Hand und beide stehen auf. Beide stehen in einem Raum, der hell erleuchtet ist. Verdutzt schaut sich Kai um. Überall sieht er Spiegel, die ihn aus allen Perspektiven zeigen. Ihm wird heiß und kalt. Er schaut sich nicht gerne im Spiegel an. Zu kritisch ist die innere Stimme und zu oft findet er etwas an sich, was ihn stört. Neben seiner Größe und seiner Schmächtigkeit. Er legt seine Hände vor seine Augen. „Ich mag nicht hinschauen, Liebesfried.“ „Ich weiß, doch es ist wichtig, wenn du etwas ändern willst. Du bist nicht allein, ich helfe dir.“ Vorsichtig linzt er durch einen Spalt seiner Hände, dann nimmt er sie vollständig herunter und schaut in den Spiegel. „Nun, was siehst du?“ „Einen kleinen, schmächtige Jungen, der nichts kann.“ „Wirklich oder glaubst du ihn nur zu sehen?“ „Was soll das, natürlich sehe ich ihn.“ „Dann schau dich mal im Raum um. Kai blickt umher, in alle unterschiedliche Spiegel. Er stellt fest, dass er immer anders aussieht. Ausgehend von der Perspektive, aus der er blickt. „Hmm, ok. Ich sehe schon immer anders aus. Je nachdem, in welchen Spiegel ich schaue.“ „So ist es. Gut gesehen Kai. Nun blick noch mal in den Spiegel vor dir. Ohne deine alte Perspektive, die dich als kleinen schmächtigen Jungen zeigt. Was siehst du?“ „Einen Jungen mit Sommersprossen im Gesicht, die lustig wirken.“ Er lacht. „Wenn ich mein Gesicht bewege, wippen die Punkte. Das mag ich.“ „Weiter?“ Ich habe braue Locken. Meine Arme und meine Beine passen gut zu meiner Körpergröße. Das ist toll. Was meinst du?“ „Es geht um dich, nicht um mich.“ Wie soll ich denn wissen, ob das alles wirklich gut an mir ist, wenn mir das niemand bestätigt?“ „Es geht allein um dich. Wie ich sagte. Das, was du an dir magst. Erinnere dich an das Vergleichen. So ähnlich ist es mit dem Bewerten von anderen. Sich davon abhängig zu machen, macht traurig.“ „Also nur, was ich an mir mag. Egal, was andere sagen. Ich verstehe. Nun abgesehen von meinem Körper mag ich an mir, dass ich gut Pfeifen kann. Und ich kann lange auf Zehenspitzen Laufen. Ich kann auch mein Gesicht zu lustigen Grimassen verziehen. Siehst du.“ Kai probiert allerlei Fratzen aus, bevor er in anhaltendes Lachen verfällt. „Schau noch einmal in den Spiegel und höre auf deine innere Stimme. Was sagt sie dir jetzt? Leg gerne deine Hand auf dein Herz und lausche.“ Kai atmet und lauscht. Sein Herz schlägt gleichmäßig und er fühlt sich wohl. Trotzdem er sich im Spiegel anschaut. „Eigentlich bin ich ganz ok.“ Er strahlt. Doch plötzlich bekommt der Spiegel Risse. Wieder sieht er den kleinen schmächtigen Jungen, der nichts kann und unsichtbar für andere ist. „Liebesfried, es wirkt nicht.“ „Es dauert, bis wir eine andere Perspektive einnehmen können. Anders zu denken, erfordert Mut und Zeit. Geb nicht gleich auf. Was würdest du einem guten Freund sagen ,wenn er an sich zweifelt und sagt, dass er nicht gut genug ist.“ „Ich würde ihm sagen, dass er gut ist wie er ist, sich nicht vergleichen soll und Bewertungen anderer egal sind.“ Dann tu genau das. Sei dir selbst ein Freund und sage dir diese Worte. Immer und immer wieder. Sei dabei geduldig und schau dich mit Liebe an. Besonders an den Tagen, an denen deine Stimme besonders laut flüstert.” Kai versteht, was Liebesfried meint. Erneut schaut er in der Spiegel. Trotz der Risse, die sich nach einige Minuten wieder bilden, bleibt er ruhig und atmet entspannt. Mit jedem Herzschlag sagt er sich, dass er gut ist, wie er ist. Die Risse werden kleiner und er fühlt Wärme in sich. „Ich glaube, dass ich es verstanden habe.“ Kai dreht sich um, doch Liebesfried ist verschwunden. Er steht wieder in seinem Zimmer und ist allein. Hat er das alles nur geträumt? Als er sich ins Bett legt, hört er kurz vor dem Einschlafen leise die Stimme von Liebesfried. „Erinnere dich an mich. Ich bin ein Teil von dir. Die Liebe in dir, die dir zeigt, dass du gut bist, wie du bist. Habe Mut, zeige dich und du wirst sichtbar.“ Kai gibt sich selbst das Versprechen, immer daran zu denken und schläft lächelnd ein. 

Am nächsten Morgen wird Kai früh wach. Es ist Samstag. Keine Schule. Er fühlt sich gut. Anders als sonst. Warum, weiß er nicht. Als seine Füße den Boden beim Aufstehen berühren, spürt er wie Leben in ihm aufsteigt, das sich ausdehnen will. In ihm und in die Welt. Er atmet, streckt und reckt sich, steht auf und stellt sich vor dem Spiegel. Kai betrachtet sich. Was er sieht, ist in Ordnung für ihn. Einen Jungen, mit lockigem braunem Haar und Sommersprossen. Normal groß. Zum allerersten Mal flüstern keine Zweifel und Ängste in ihm. Eine neue Stimme in ihm wird wach und sagt: „Du bist in Ordnung, wie du bist.“ Mit einer Hand auf seinem Herzen spürt er Wärme und Zufriedenheit. Schnell geht er ins Bad, macht sich frisch und zieht sich an. Dann rennt er im Sturm die Treppe hinunter. Seine Eltern und seine Geschwister sitzen schon am Frühstücktisch. „Guten Morgen.“ „Oh, so gute Laune?“ „Ja. Papa, kannst du mein Fahrrad aus dem Keller holen? Ich will es doch noch mal probieren mit dem Fahren.“ „Das freut mich. Natürlich. Weißt du was, wir sollten alle eine Fahrrad Tour machen. Was haltet ihr davon?“ „Der Kleine kommt mit seinen Stützrädern doch gar nicht hinterher.“ „Das denkst auch nur du. Ich bin schneller als du. Das wirst du schon sehen.“ „Hört, hört.“ Jürgen lacht. „Na dann bleibt mir nichts übrig, als die Herausforderung anzunehmen. Was meinst du Bettina.“ „Klar.“ Kai wächst. Er hat sich behauptet und sich die Bewertung seines Bruders nicht zu Herzen genommen. Fröhlich frühstückt er zu Ende. 

Kurz vor Beginn des Ausfluges bittet er seinen Vater die Stützräder abzumachen. „Bist du sicher?“ „Ja, ich schaffe das.“ „Na gut.“ Kai setzt sich unsicher aufs Fahrrad. Er merkt, wie sein Mut wieder sinkt und er am liebsten in sein Zimmer laufen würde, um sich die Decke über den Kopf zu ziehen. Doch er probiert es und fährt ein paar Meter. Danach fällt er um und landet auf seinen Po. Alle schauen ihn an. „Jetzt oder nie“, flüstert seine Stimme. Er nimmt sein Fahrrad, stellt es wieder auf und setzt sich auf den Sattel. Nach einem tiefen Atemzug tritt er in die Pedale und fährt los. Schnell und schneller. „Na warte Kleiner, ich hole dich schon ein.“

Der Wind kitzelt und fährt ihm durchs Haar. Kai fühlt sich frei und genießt den Moment. Er wächst weiter und begreift, auf welche Größe es wirklich ankommt. Morgen wird er Hans fragen, wie das mit dem Handstand geht. Und übermorgen, wer weiß, was dann geschieht. 

Gedanken


September

Der Mann im Mond

„Liest du mir gleich etwas vor?“ „Das geht leider nicht mein Schatz, ich muss noch arbeiten.“ „Aber ohne eine Gute Nacht Geschichte kann ich nicht schlafen.“ „Nimm dir doch die Einhorn Toni Figur.“ „Bitte Papa.“ „Marieke, ich hab jetzt echt keinen Kopf dafür.“ „Ok.“ Sie nimmt ihren Teddybären, rutscht vom Stuhl und schleicht mit hängenden Kopf aus dem Esszimmer. „Es tut mir leid, es war nicht so gemeint. Das nächste Mal klappt es bestimmt. Jetzt putz dir bitte die Zähne und geh ins Bett. Ich schau später noch mal vorbei.“

Marieke umklammert ihren Teddybären. Sie ist traurig. „Papa hat nie Zeit. Nicht mal für eine Gute Nacht Geschichte. Ständig arbeitet er oder bringt mich zu Oma. Mama fehlt mir so sehr.“

Sie erinnert sich daran, wie sie sich abends, beim Zubettgehen, in ihre Arme gekuschelt hat. Sie hatte ihr immer über den Kopf gestreichelt, bevor sie ein Einschlaflied für sie summte und ihr die Geschichte vom Mann im Mond vorlas.

Der Mann im Mond, Marieke blickt aus dem Fenster in die helle Nacht. 

„Wo Mama wohl ist? Papa redet darüber mit mir nicht. Oma hat erzählt, dass sie nun ein Engel ist und im Himmel wandert. Ich hoffe, dass die Wolken weich sind und sie gut tragen.“

Als sie ihre Mama das letzte Mal gesehen hatte, roch sie fremd und sah ganz anders aus. Dünn und blass. Ihre Punkte im Gesicht, die immer so lustig hin und her wippten, wenn sie lachte, waren verschwunden. Doch als sie in ihre Augen blickte, erkannte Marieke sie. Damals hatte ihre Mama etwas zu ihr gesagt, was sie nicht verstand. „Vergiss nicht, dass ich dich liebe und immer bei dir bin. Wenn du dich einsam fühlst oder traurig bist, weil du mich vermisst, dann schau zum Mond. Dort sitze ich und wache über dich. Jede Nacht.“ 

Ein paar Tage später hörte sie ihren Papa nachts weinen. Oma kam von da an jeden Tag und kümmerte sich um sie. Sie machte ihr Frühstück, brachte sie in den Kindergarten und spielte mit ihr. Sie erklärte ihr, dass Mama nicht wiederkommen würde, weil sie ihre Zeit auf Erden aufgebraucht hätte. Marieke konnte mit dieser Erklärung nichts anfangen. Wie war das gemeint? Hat jeder von Geburt an eine Uhr, die irgendwann einfach abläuft oder stehen bleibt? Sie suchte tagelang an ihrem Körper nach einer Uhr, konnte aber keine finden. Sie hatte Oma wohl falsch verstanden. Doch was war dann mit Mama passiert, fragte Marieke sich. 

Eines Tages ging ihr Papa in einem schwarzen Anzug aus dem Haus, während sie im Garten saß und mit ihren Puppen Tee trank. 

„Oma, warum hat Papa heute einen schwarzen Anzug an?“ „Heute ist ein Tag für Schwarz, weil man einen besonderen Menschen verabschiedet.“ „Aber warum trägt man dann schwarz? Schwarz macht mir Angst. Es erinnert mich an die Nacht. An Monster unter meinem Bett, die flüstern und nach meinen nackten Füßen greifen wollen. Mama hat sie immer vertrieben. Mit Schokokeksen. Sie hat immer gesagt, dass Monster lieber Plätzchen Essen anstatt Füße kleiner Mädchen.“ „Ja, so war sie.“ Ihre Augen glitzerten und sie wandte sich ab. „Alles in Ordnung Oma?“ „Natürlich mein Schatz, ich hatte etwas im Auge.“ „Also, warum schwarz? Wenn man einen Menschen besonders mag, könnte man doch seine Lieblingsfarbe tragen. Mama mochte zum Beispiel Lila. Deshalb tragen meine Puppen heute lila Hüte. Meinst du Mama würde sich darüber freuen?“ „Sicherlich.“ „So sehr, dass sie zurückkommt?“ „Nein mein Schatz, leider nicht.“ „Warum nicht?“ „Sie kann nicht zurückkommen, weil sie ein Engel ist, der im Himmel auf Wolken wandert. Engel können auf der Erde, auf der wir leben, nicht atmen.“ „Hmm, aber sie könnte es doch wieder lernen.“ „Sie würde hier nicht atmen können, auch wenn sie es versucht. Sie ist nun eine Seele, Energie im Himmel.“ „Eben hast du gesagt, sie ist ein Engel.“ „Sie ist beides. Energie, die sich aus der Seele zum Engel formt.“ „Wie sieht Energie denn aus?“ „Das ist schwer zu erklären. Wir alle sind Energie. Kleine Teile aus Atomen. Aber das erkläre ich dir, wenn du größer bist. Merk dir nur, dass deine Mama immer bei dir ist. Sie schaut vom Himmel aus zu und beschützt dich, solange du auf Erden bist.“ Marieke nickte, doch war anderer Meinung. Ihre Mama hatte einmal zu ihr gesagt, dass sie immer bei ihr bleiben würde, um die Monster unter ihrem Bett mit Schokokeksen zu vertreiben und ihr die Geschichte vom Mann im Mond vorzulesen. Sie hatte noch nie ein Versprechen gebrochen. Marieke widmete sich wieder ihren Puppen zu und goss ihnen Tee nach. In diesem dem Moment fiel ein Sonnenstrahl auf den Tisch und ein lila Schmetterling landete auf ihrem Handrücken. Sie lachte. „Mama, ich wusste es. Bald bist du wieder bei mir.“

Die Tage vergingen, doch Mama kam nicht zurück. Sie vermisste sie schrecklich. An manchen Tagen war es so schlimm, dass ihre Augen plötzlich nass wurden und sie weinen musste. Ihre Oma hatte ihr erklärt, dass das Trauer ist, die man fühlt, wenn man einen Menschen, den man gern hat, verliert.

Marieke möchte nicht mehr traurig sein. Es fühlt sich nicht schön an. Trauer ist blöd. Sie sehnt sich nach den Tagen am See, an dem sie mit ihren Eltern zusammen gepicknickt und gelacht hatte. Wenn sie diese Lachen nur zurück holen könnte, dann wäre alles wieder gut. 

Sie kuschelt sich in ihre Decke und summt die ihr bekannte Nachtmelodie. Dann hat Marieke eine Idee. Sie denkt an den Mann im Mond. Er wandert nachts am Himmel auf und ab, um die Sterne anzupusten, damit sie in der Dunkelheit für die Menschen funkeln. Immer wenn sie von ihren Fenstern aus zu ihm blicken, gibt er sich besonders Mühe, die Nacht für sie zu erhellen. An klaren Tagen gelingt es ihm gut und die Sterne leuchten hell. An anderen Tagen erstrahlt er selbst in voller Pracht und flüstert den Menschen im Schlaf Ruhe zu. Ganz selten erfüllt er Menschen, die sich besonders stark nach etwas sehnen, einen Wunsch. Er wählt einen Stern aus und schickt ihn mit dem Wunsch vom Himmel zur Erde. Marieke blickt aus dem Fesnter. „Ich wünsche mir meine Mama wieder zurück.“ Sie schließt die Augen, legt ihre Hände ineinander und wiederholt flüsternd ihre Bitte. Als sie die Augen wieder öffnet, sieht sie eine Sternschnuppe vom Himmel fliegen. Sie landet nahe dem See, an dem sie mit ihren Eltern oft gewesen ist. „Dort wartet Mama auf mich.“ Freudig springt sie vom Bett auf, nimmt ihren Teddybären und klettert aus dem Fenster. Sie möchte ihren Papa überraschen. 

Roman sitzt vor seiner Präsentation. Er blickt auf die Uhr. Es ist bereits kurz vor Mitternacht. Er seufzt. Wieder hat er Marieke enttäuscht. Anstatt ihr eine Gute Nacht Geschichte vorzulesen, hat er sich in seine Arbeit vertieft, um sich von seinem Schmerz abzulenken. Was würde Elke dazu sagen? Er sieht ihr Gesicht vor sich, ihre lachenden Sommersprossen und ihr Leuchten in ihren Augen. Er weint, überwältigt vom Schmerz, den er endlich zulässt. Darüber schläft er ein. 

„Roman, sei nicht zu hart zu dir. Du bist ein guter Vater. Du hast dich nur in deinem Schmerz verlaufen und vergessen, was das Wichtigste in deinem Leben ist; Marieke. Sie ist die Essenz unserer Liebe. Du hast mir versprochen, gut auf sie aufzupassen, weil ich es nicht mehr kann. Bitte lass mich los und lebe weiter. Für unsere Tochter. Ich warte hier auf dich. Wir sehen uns wieder.“ Er wird wach und begreift, dass er geträumt hat. Lächelnd blickt er auf das erste selbst gemalte Bild von Marieke, dass eingerahmt auf seinem Schreibtisch steht. „Du hast Recht Elke. Danke, dass du mich an das Beste in meinem Leben erinnerst.“

Leise öffnet er die Tür des Kinderzimmers. Es brennt Licht, doch das Bett ist unberührt. Trotz intensiver Suche findet er sie nicht. Er gerät in Panik und greift zum Handy, um die Polizei anzurufen. Mit dem Telefon in der Hand bleibt vor dem Fenster stehen und erblickt den Vollmond, der hell aufleuchtet. „Der Mann im Mond.“ Elke hatte Marieke das Märchen jeden Abend vorgelesen. Er versucht sich an den Inhalt der Erzählung zu erinnern. Ein Wunsch wird erfüllt, wenn eine Sternschnuppe vom Himmel fällt. Roman weiß, was sie sich wünscht. Er hat denselben Wunsch. Doch wo könnte die Sternschnuppe hingefallen sein? Das Bild, das auf ihrem Nachttisch steht, zeigt sie bei einem ihrer Ausflüge am See. Sie sind oft zu diesem Ort gefahren und hatten dort glückliche Stunden verbracht. Roman schluckt, als er diese Erinnerungen fühlt. „Dort muss sie sein.“ 

„Marieke, Papa ist hier. Wo bist du?“ Durch die Büsche hindurch erblickt er eine kleine Gestalt, die am Boden sitzt und weint. „Da bist du ja mein Schatz, Gott sei Dank.“ Er geht zu ihr und setzte sich neben sie. Erleichtert schließt er sie in die Arme Dann weinen beide zusammen. Nach einige Momenten schluchzt es aus ihr heraus. „Das Märchen stimmt nicht Papa. Den Mann im Mond gibt es gar nicht. Ich habe eine Sternschnuppe gesehen und mir gewünscht, dass Mama wiederkommt. Sie ist zum See gefallen. Das weiß ich bestimmt. Deshalb bin ich hierhin gelaufen und habe auf Mama gewartet. Doch sie ist nicht gekommen.“

Marieke umklammert ihren Teddybären und sieht ihn mit tränenverhangenden Augen an. Roman wird bewusst, dass er nicht mehr schweigen kann. Er muss ihr die Wahrheit sagen, sich öffnen und den Schmerz mit ihr teilen, damit sie ihn beide zusammen überwinden können. „Mein Schatz, Mama ist gestorben. Sie kommt nicht zurück.“ „Was bedeutet das?“ „Du kennst doch die Bilder, auf denen du ein Baby bist?“ Marieke nickt „Nun, wir alle werden geboren, größer und älter. Die Zeit vergeht. Wir wachsen, verändern uns, machen Erfahrungen. Wir gehen in den Kindergarten, in die Schule, lernen, um später etwas machen zu können, was uns Spaß macht und mit dem wir Geld verdienen können. Und mit viel Glück treffen wir einen Menschen den wir sehr gerne haben und mit dem wir eine Familie gründen wollen. Alles beginnt von vorne. Ein Kind wird geboren, es wird größer, wächst und macht eigene Erfahrungen. Das nennt man Leben. Zum Leben gehört, dass wir älter werden. Älter werden heißt, dass mit der Zeit unser Körper schwächer wird. Irgendwann ist er einfach zu alt für das Leben und stirbt.“ „Aber Mama war doch gar nicht alt.“ „Nein Marieke, das war sie nicht. Doch leider wird unser Körper manchmal krank und trotz Behandlungen von Ärzten nicht mehr gesund. Wenn wir krank werden, kann es passieren, dass das Alter keine Rolle spielt und wir dennoch sterben, weil unser Körper zu schwach ist, um weiterzuleben. Das ist mit Mama passiert. Sie hat sehr gekämpft, glaub mir mein Schatz. Leider war die Krankheit stärker als sie.“ Beide schwiegen. 

„Deswegen sah Mama auch immer so müde aus, als wir sie besucht haben.“„Ja.“ „Hat ihr das krank sein weh getan?“ „Ab und an sicherlich. Doch dann hat sie an uns gedacht. Vor allem an dich. Sie wollte gesund werden. Für uns. Für dich. Sie hat dich sehr geliebt, das weißt du oder? Sie hötte dich niemals freiwillig verlassen.“ Über Mariekes Gesicht huscht ein keines Lächeln. „Weißt du was ich ihr versprechen musste?“ Sie blickt ihn mit großen Augen an. „Auf dich aufzupassen, weil sie es nicht mehr kann. Ich gebe zu, dass es mir das in letzter Zeit nicht gut gelungen ist. Ich war zu sehr mit meinem Schmerz beschäftigt. Das tut mir leid.“ „Das ist ok Papa. Das ist Trauer, weil man jemanden vermisst, den man gerne hat.“ Beide umarmen sich.

Hand in Hand gehen sie zum Auto. Auf der Fahrt nach Hause leuchtet der Mond. Roman fühlt, dass Elke glücklich ist, weil sie sich wieder gefunden haben.  

Liebe

Wir

Nordwind

Momente

Gedanken