Kai ist mit 8 Jahren der jüngste von seinen Geschwistern. Bettina ist 12 und Jürgen 16. Neben ihnen fühlt er sich wie ein Zwerg. Sie können besser Fahrrad Fahren und Schwimmen als er. Er übt, ohne Stützräder zu fahren, doch fällt immer wieder hin. Und ohne Schwimmflügel will er nicht ins Wasser gehen. „Angsthase, Pfeffernase. Traust dich ja doch nicht“, hänseln in seine älteren Geschwister. „Lasst Kai in Ruhe. Er ist noch klein“, sagen seine Eltern. Er blickt ins Wasser und sieht seinen schmächtigen Körper mit den übergroßen Schwimmflügeln. Er ist sich sicher, dass alle ihn auslachen, wenn sie ihn ansehen. Selbst sein Spiegelbild. Er beschließt seine Schwimmversuche aufzugeben. Auch das Fahrrad Fahren, was ihm großen Spaß gemacht hat, lässt er sein.
Mit der Zeit fühlt sich Kai immer kleiner. Immer wenn er sich im Spiegel sieht, flüstert eine innere Stimme zu ihm: „Schau dich an. Wie soll ein Winzling wie du jemals Schwimmen oder Fahrrad Fahren lernen können.“ Betrübt lässt er seinen Kopf hängen und fühlt sich noch schlechter. Er gibt der inneren Stimme Recht und beginnt, sich in Frage zu stellen. „Was kann ich überhaupt? Ich bin in nichts außerordentlich gut und habe keine besondere Begabung.“ Er beobachtet seine Freunde, die in seinen Augen alle größer und besser sind als er, weil sie etwas besonders gut können. Peter schnitzt tolle Figuren aus Holz, mit denen er mit seinem Vater Schach spielt. Hans kann freihändig Handstand und beeindruckt damit die Mädchen in der Klasse. Kai stellt im Vergleich mit seinen Freunden schmerzhaft fest, dass er weder besonders kreativ noch sportlich ist. Er hat keine Kraft in den Armen und ist seiner Meinung nach ungeschickt. Er plumpst beim Geräteturnen zu Boden und beim Basteln schneidet er schief.
Kai wird immer mutloser und kritischer mit sich selbst. Er probiert sich nicht mehr aus und bewertet zunehmend seine Leistungen schlecht. Seine Bilder sind nicht bunt genug und seine Geschichten zu langweilig. Er wird immer betrübter und zieht sich zurück, weil er der Meinung ist, dass ihn andere nicht mögen können. „Was sollen sie mit einem langweiligen Kerl wie mit mir. Der Hans hat letztens schon komisch geguckt, als ich beim Purzelbaum mal wieder zur Seite gekippt bin. Der hat sich bestimmt bei Peter über mich lustig gemacht. Wahrscheinlich mögen mich beide nicht, wollen es mir aber nur nicht sagen.“
Mittlerweile fühlte sich Kai ganz allein. Er verbringt seine Schulpausen allein, geht nicht mehr auf Kontaktversuche von seinen Freunden ein und spielt mittags nicht mehr mit ihnen. Oft sitzt er bedrückt am Esszimmertisch. Wenn man ihn fragt, ob alles in Ordnung ist, bejaht er das. Dabei fühlt er sich immer kleiner und kleiner, fast schon unsichtbar. Doch er weiß nicht, wie er ausdrücken soll, was er fühlt. Also bleibt er allein, mit seiner inneren Stimme, die ihn zunehmend belastet und traurig macht.
Eines abends, überwältigt von seinen Gefühlen, weint er in sein Kopfkissen. „Ich bin total unwichtig, weil ich nichts gut kann und langweilig bin. Alle anderen sind besser und wichtiger als ich. Wenn es doch nur einen Menschen geben würde, dem ich mich anvertrauen könnte. Jemand, der mich versteht.“ Nach dem vielen Weinen ist er total erschöpft und schläft ein.
In der Nacht wird er von einem Geräusch geweckt. Der Holzboden knarrt. Erschrocken öffnet Kai seine Augen. Was war das? Er lauscht in die Stille. Es ist nichts mehr zu hören. „Ich muss geträumt haben.“ Nachdem er die Augen wieder schließt, knarrt es erneut. Er setzt sich gerade auf und fühlt sein pochendes Herz. „Hallo? Ist da jemand?“ Kai umklammert seine Decke. Er sieht einen kleinen Schatten an seinem Bett sitzen, der größer und größer wird. Zwei freundlich aussehende Augen blitzen darin und ein kleines rotes Herz kommt zum Vorschein, das pulsiert. Zunehmend nimmt die Gestalt die Umrisse einer menschlichen Gestalt an. Sie rückt näher zu ihm und stellt sich vor. „Hallo Kai, ich bin Liebesfried.“ „Woher weißt du meinen Namen?“ „Ich weiß immer die Namen der Menschen, die mich brauchen.“ „Wie meinst du das?“ Du hast mich gerufen und nun bin ich hier.“ Die Gestalt breitet einladend seine Arme aus. Ihr Herz pulsiert noch stärker und strahlt Wärme aus. Ohne zu wissen warum, wirft sich Kai in die Umarmung und weint hemmungslos. Diesmal tut ihm das Weinen gut. Es löst all den Schmerz und aufgestauten Gefühle. Mehrere Minuten vergehen, bis er sich wieder aus den Armen der Gestalt löst. Er wischt sich die Augen trocken und schnieft. Sein Gefühlsausbruch ist ihm unangenehm. Noch nie hat er sich jemanden anvertraut.. „Gräme dich nicht Kai. Weinen tut manchmal gut. Wir dürfen uns unsere Gefühle erlauben. Hier ein Taschentuch.“ Die Gestalt streichelt ihm über dem Kopf, während er sich die Nase putzt. „Nun erzähl mir, was dich bedrückt.“
„Nun, ich bin ganz klein. Nichts kann ich gut. Alle anderen sind besser als ich.“ „Wer sagt das?“ „Na alle.“ „Wirklich?“ Kai überlegt. „Hmm, naja, ich sehe, wie andere mich anschauen und beobachte ihr Gesicht. Darin lese ich, dass sie sich über mich lustig machen und mich nicht mögen.“ „Also glaubst du es zu wissen, weil du es siehst?“ „Wie meinst du das?“ „Keiner sagt dir, dass du klein bist und nichts kannst. Du liest es in den Gesichtern anderer und nimmst es deswegen so wahr.“ „Das stimmt nicht. Meine Mama sagt immer, dass ich klein bin. Und meine Geschwister ärgern mich deswegen.“ „Meinst du denn, dass sie es böse meinen? Oder wollen sie dich vielleicht nur in Schutz nehmen und vielleicht auch ein wenig ärgern, wie es bei Geschwistern üblich ist? Ist es denn wirklich immer so?“ Kai überlegt erneut. Darüber hat er noch nie nachgedacht. Häufig sucht er nach Anzeichen, die bestätigen, dass er klein ist und nichts kann. Auf einmal findet er es unangenehm, dass er nur nach dem Schlechtem in seinem Leben sucht. Sein Bauch zieht sich zusammen und sein Herz schlägt schnell. „Also, eigentlich ist es nicht immer so. Meine Mama sagt immer, dass ich für mein Alter schon sehr gut zeichnen kann. Und sie mag meine Geschichten. Selbst meine Geschwister lesen sie gerne. Irgendwie habe ich das ganz vergessen. Jetzt fühle ich mich schlecht, weil ich nicht gut von meiner Familie gesprochen habe.“ „Das musst du nicht. Es passiert häufig, dass wir das Gute in unserem Leben vergessen. Dann brauchen wir jemanden, der uns daran erinnert und uns zeigt, woher es wirklich kommt, dass wir nur das Schlechte sehen und traurig sind. Was meinst du, woher es kommt, dass du dich so klein und unbedeutend fühlst?“ „Mein Spiegelbild sagt es mir.“ „Aha, und?“ „Und eine Stimme, die in mir flüstert. Sie sagt oft, dass ich die Dinge nicht so gut wie meine Freunde mache und nichts gut kann. Dann sehe ich immer meine Bilder an und finde sie blöd. Auch meine Geschichten mag ich dann nicht mehr. Wenn ich dann noch mal in den Spiegel schaue, sehe ich nur den kleinen schmächtigen Kai, der nichts kann und in nichts gut ist. Dann flüstert die Stimme noch lauter.“ „Das was du beschreibst, geht vielen Menschen so.“ „Wirklich, ich bin nicht allein damit?“ „Nein.“ „Und wie ändere ich das? Ich möchte mich nicht mehr so fühlen und will auch wieder rausgehen. Mit Freunden spielen, malen, schreiben, Fahrrad Fahren und Schwimmen üben, ohne, dass ich ständig Angst habe, nicht gut genug zu sein und andere deswegen über mich lachen.“ „Das ist eine gute Idee Kai. Du bist ein toller Junge mit vielen Talenten. Ich helfe dir gerne dabei, dass zu erkennen und dich selbst zu finden.“ „Wen finden?“ „Ich erkläre es dir. Schau, du sprichst von deinen Freunden, die alle etwas gut können. Vielleicht besser als du. Deswegen bist du traurig und machst dich selbst klein. Du bewertest dich, weil du dich vergleichst.“ „Tut das nicht jeder?“ „Nicht zwangsläufig. Besser ist es, sich auf sich zu konzentrieren. Du kannst gut Malen und Geschichten schreiben. Das können andere nicht. Wenn sie sich nun mit dir vergleichen, sind sie ebenso unglücklich, wie du es bist. Verstehst du was ich meine?“ „Vergleichen macht unglücklich?“ „Genau, und?“ Ich bin ich und gut wie ich bin?“ „Du hast es erkannt.“ „Schön und gut, aber wie soll ich mich im Alltag daran erinnern?“ Die Gestalt reicht Kai die Hand. „Komm, ich zeige es dir.“ Voller Vertrauen greift er nach der Hand und beide stehen auf. Beide stehen in einem Raum, der hell erleuchtet ist. Verdutzt schaut sich Kai um. Überall sieht er Spiegel, die ihn aus allen Perspektiven zeigen. Ihm wird heiß und kalt. Er schaut sich nicht gerne im Spiegel an. Zu kritisch ist die innere Stimme und zu oft findet er etwas an sich, was ihn stört. Neben seiner Größe und seiner Schmächtigkeit. Er legt seine Hände vor seine Augen. „Ich mag nicht hinschauen, Liebesfried.“ „Ich weiß, doch es ist wichtig, wenn du etwas ändern willst. Du bist nicht allein, ich helfe dir.“ Vorsichtig linzt er durch einen Spalt seiner Hände, dann nimmt er sie vollständig herunter und schaut in den Spiegel. „Nun, was siehst du?“ „Einen kleinen, schmächtige Jungen, der nichts kann.“ „Wirklich oder glaubst du ihn nur zu sehen?“ „Was soll das, natürlich sehe ich ihn.“ „Dann schau dich mal im Raum um. Kai blickt umher, in alle unterschiedliche Spiegel. Er stellt fest, dass er immer anders aussieht. Ausgehend von der Perspektive, aus der er blickt. „Hmm, ok. Ich sehe schon immer anders aus. Je nachdem, in welchen Spiegel ich schaue.“ „So ist es. Gut gesehen Kai. Nun blick noch mal in den Spiegel vor dir. Ohne deine alte Perspektive, die dich als kleinen schmächtigen Jungen zeigt. Was siehst du?“ „Einen Jungen mit Sommersprossen im Gesicht, die lustig wirken.“ Er lacht. „Wenn ich mein Gesicht bewege, wippen die Punkte. Das mag ich.“ „Weiter?“ Ich habe braue Locken. Meine Arme und meine Beine passen gut zu meiner Körpergröße. Das ist toll. Was meinst du?“ „Es geht um dich, nicht um mich.“ Wie soll ich denn wissen, ob das alles wirklich gut an mir ist, wenn mir das niemand bestätigt?“ „Es geht allein um dich. Wie ich sagte. Das, was du an dir magst. Erinnere dich an das Vergleichen. So ähnlich ist es mit dem Bewerten von anderen. Sich davon abhängig zu machen, macht traurig.“ „Also nur, was ich an mir mag. Egal, was andere sagen. Ich verstehe. Nun abgesehen von meinem Körper mag ich an mir, dass ich gut Pfeifen kann. Und ich kann lange auf Zehenspitzen Laufen. Ich kann auch mein Gesicht zu lustigen Grimassen verziehen. Siehst du.“ Kai probiert allerlei Fratzen aus, bevor er in anhaltendes Lachen verfällt. „Schau noch einmal in den Spiegel und höre auf deine innere Stimme. Was sagt sie dir jetzt? Leg gerne deine Hand auf dein Herz und lausche.“ Kai atmet und lauscht. Sein Herz schlägt gleichmäßig und er fühlt sich wohl. Trotzdem er sich im Spiegel anschaut. „Eigentlich bin ich ganz ok.“ Er strahlt. Doch plötzlich bekommt der Spiegel Risse. Wieder sieht er den kleinen schmächtigen Jungen, der nichts kann und unsichtbar für andere ist. „Liebesfried, es wirkt nicht.“ „Es dauert, bis wir eine andere Perspektive einnehmen können. Anders zu denken, erfordert Mut und Zeit. Geb nicht gleich auf. Was würdest du einem guten Freund sagen ,wenn er an sich zweifelt und sagt, dass er nicht gut genug ist.“ „Ich würde ihm sagen, dass er gut ist wie er ist, sich nicht vergleichen soll und Bewertungen anderer egal sind.“ Dann tu genau das. Sei dir selbst ein Freund und sage dir diese Worte. Immer und immer wieder. Sei dabei geduldig und schau dich mit Liebe an. Besonders an den Tagen, an denen deine Stimme besonders laut flüstert.” Kai versteht, was Liebesfried meint. Erneut schaut er in der Spiegel. Trotz der Risse, die sich nach einige Minuten wieder bilden, bleibt er ruhig und atmet entspannt. Mit jedem Herzschlag sagt er sich, dass er gut ist, wie er ist. Die Risse werden kleiner und er fühlt Wärme in sich. „Ich glaube, dass ich es verstanden habe.“ Kai dreht sich um, doch Liebesfried ist verschwunden. Er steht wieder in seinem Zimmer und ist allein. Hat er das alles nur geträumt? Als er sich ins Bett legt, hört er kurz vor dem Einschlafen leise die Stimme von Liebesfried. „Erinnere dich an mich. Ich bin ein Teil von dir. Die Liebe in dir, die dir zeigt, dass du gut bist, wie du bist. Habe Mut, zeige dich und du wirst sichtbar.“ Kai gibt sich selbst das Versprechen, immer daran zu denken und schläft lächelnd ein.
Am nächsten Morgen wird Kai früh wach. Es ist Samstag. Keine Schule. Er fühlt sich gut. Anders als sonst. Warum, weiß er nicht. Als seine Füße den Boden beim Aufstehen berühren, spürt er wie Leben in ihm aufsteigt, das sich ausdehnen will. In ihm und in die Welt. Er atmet, streckt und reckt sich, steht auf und stellt sich vor dem Spiegel. Kai betrachtet sich. Was er sieht, ist in Ordnung für ihn. Einen Jungen, mit lockigem braunem Haar und Sommersprossen. Normal groß. Zum allerersten Mal flüstern keine Zweifel und Ängste in ihm. Eine neue Stimme in ihm wird wach und sagt: „Du bist in Ordnung, wie du bist.“ Mit einer Hand auf seinem Herzen spürt er Wärme und Zufriedenheit. Schnell geht er ins Bad, macht sich frisch und zieht sich an. Dann rennt er im Sturm die Treppe hinunter. Seine Eltern und seine Geschwister sitzen schon am Frühstücktisch. „Guten Morgen.“ „Oh, so gute Laune?“ „Ja. Papa, kannst du mein Fahrrad aus dem Keller holen? Ich will es doch noch mal probieren mit dem Fahren.“ „Das freut mich. Natürlich. Weißt du was, wir sollten alle eine Fahrrad Tour machen. Was haltet ihr davon?“ „Der Kleine kommt mit seinen Stützrädern doch gar nicht hinterher.“ „Das denkst auch nur du. Ich bin schneller als du. Das wirst du schon sehen.“ „Hört, hört.“ Jürgen lacht. „Na dann bleibt mir nichts übrig, als die Herausforderung anzunehmen. Was meinst du Bettina.“ „Klar.“ Kai wächst. Er hat sich behauptet und sich die Bewertung seines Bruders nicht zu Herzen genommen. Fröhlich frühstückt er zu Ende.
Kurz vor Beginn des Ausfluges bittet er seinen Vater die Stützräder abzumachen. „Bist du sicher?“ „Ja, ich schaffe das.“ „Na gut.“ Kai setzt sich unsicher aufs Fahrrad. Er merkt, wie sein Mut wieder sinkt und er am liebsten in sein Zimmer laufen würde, um sich die Decke über den Kopf zu ziehen. Doch er probiert es und fährt ein paar Meter. Danach fällt er um und landet auf seinen Po. Alle schauen ihn an. „Jetzt oder nie“, flüstert seine Stimme. Er nimmt sein Fahrrad, stellt es wieder auf und setzt sich auf den Sattel. Nach einem tiefen Atemzug tritt er in die Pedale und fährt los. Schnell und schneller. „Na warte Kleiner, ich hole dich schon ein.“
Der Wind kitzelt und fährt ihm durchs Haar. Kai fühlt sich frei und genießt den Moment. Er wächst weiter und begreift, auf welche Größe es wirklich ankommt. Morgen wird er Hans fragen, wie das mit dem Handstand geht. Und übermorgen, wer weiß, was dann geschieht.
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