Drei Worte

Liebe

Gedanken

Winter

Liebe

Die Schublade

Anne sitzt mit ihrem Laptop im Café, um zu schreiben. Sie sucht nach einer Geschichte für ihre wöchentliche Kolumne. Morgen ist der Abgabetermin. Hier, umgeben von Leben wird sie Inspiration, die sie dringend benötigt, finden. Da ist sie sich sicher. Sie lauscht den Geräuschen und fühlt sich beflügelt; Kaffeetassen klappern, Menschen sprechen miteinander, die Siebträgermaschine läuft. Motiviert öffnet sie ihren PC, startet ihr Schreibprogramm und fängt zu tippen an. 

„Das Leben ist schon komisch. Wir werden ohne Gebrauchsanweisung geboren und sollen wissen, wie man lebt. So viele Möglichkeiten, grenzenlose Freiheit – Fluch oder Segen? Auf der Suche nach Sinn verlaufen wir uns oft. Wir biegen falsch ab und landen in einer Sackgasse. Im falschen Beruf oder bei einem Menschen, der uns nicht gut tut. Und selbst wenn wir beruflich erfolgreich sind und unseren Traumpartner gefunden haben, sind wir nicht glücklich. Wir suchen weiter, weil es mehr geben muss; etwas, was uns noch glücklicher macht. Dieses mehr treibt uns an. Bis wir am Ende unseres Lebens feststellen, dass wir selbst dieses Mehr sind. Wir sind es, die dem Leben Sinn geben. Durch unsere Entscheidungen, Wege zu gehen oder die Richtung zu wechseln.“

Anne nippt für eine kreative Pause an ihrem Kaffee. Danach liest sie ihr Geschriebenes. Ihre Worte wirken lächerlich auf sie. Was weiß sie schon vom Leben? Bis jetzt ist sie immer falsch abgebogen und ist dort gelandet, wo andere mit 20 sind. Sie ist Single, 34 Jahre alt und lebt in einem 1-Zimmer Apartment. Obwohl sie sich beengt fühlt, kann sie sich nicht dazu aufraffen, nach einer neuen Wohnung zu suchen. Was ist ihr wichtiger? Ein Balkon mit Aussicht, ein Fenster mit Bad oder eine Badewanne? „Ich schreibe über Entscheidungen, kann aber selbst keine treffen. Ich schaffe es ja nicht einmal, alte Kleidungsstücke auszusortieren oder die getrockneten Blumen von Robert wegzuschmeißen.“ Robert, ihr Herz macht einen Stich. Schnell greift sie wieder zu ihrer Kaffeetasse, um sich von ihrem Gefühl abzulenken. Stattdessen kommt sie ins Grübeln. Wenn sie es sich recht überlegt, hat sie gar nichts im Griff. Nicht einmal sich selbst Sie schlägt sich als freie Autorin durch, träumt davon einen Roman zu schreiben, schwankt aber ständig in ihren Prioritäten. Mal möchte sie Karriere machen, dann eine Weltreise. Seit Jahren sucht sie nach Sinn in ihrem Leben, nach dem mehr, was sie glücklich macht, doch egal was sie findet, sie fühlt sich trotzdem leer. „Ich kann nicht über das Leben schreiben, wenn ich es selbst nicht verstehe.“ Resigniert löscht sie ihre Gedanken. Sie schließt ihre Augen und massiert ihre Schläfen. „Konzentrier dich. Hier sind so viele Menschen. So viel Inspiration liegt vor dir. Du musst dich nur darauf einlassen, dann findest du deine Geschichte.“ Anne schaut sich um. Bei einem älteren Herren, der allein am Tisch sitzt, bleibt ihr Blick hängen. Neben ihm stehen zwei gepackte Koffer. „Was könnte seine Geschichte sein? Woher kommt er und wohin will er gehen?“, denkt sie. 

Wieder ein Samstag Mittag ohne Elfriede. Das Leben hat ihn verlassen.Er schaut auf seinen Teller. Marmorkuchen ist ihr Lieblingskuchen gewesen. Immer wenn sie ihn gegessen hatte, war ihr Mund schokoverschmiert. Er hatte sie aufgezogen, worüber sie sich ärgerte. Dann sagte er zu ihr: „Ist es nicht besser, jemanden an seiner Seite zu haben, der einem sagt, dass man einen Schokomund hat?“ Beide lachten, hielten sich an den Händen und blickten sich tief in die Augen. „Mein Rudolf, was würde ich nur ohne dich tun?“ Dabei wussten beide, dass sie die starke Person in ihrer Ehe war. Sie hielt ihm den Rücken frei, während er Karriere machte. Die ganzen 45 Jahre lang. Sie lernten sich kennen, als er 18 Jahre alt war. Sie hatte ihn gleich beeindruckt, mit ihrer selbstbewussten und kecken Art. Elfriede war anders als alle anderen Mädchen. Das stellte er auf der Frühlingskirmes fest. Er wollte sie beeindrucken, in dem er auf den Lukas haute, der jedoch nur kläglich ausschlug. Sie lachte. „Soll ich dir mal zeigen, wie das geht?“ „Na dann mal los.“ Elfriede schlug drauf und holte die volle Punktzahl. Ungläubig starrte er sie an. „Willst du mich nur anschauen oder lädst du mich endlich zum Karussell Fahren ein?“ Während der Fahrt beobachtete er sie. Ihr Lachen war wunderbar. Frei und ehrlich. Sie schloss die Augen und genoss den Moment. Etwas was er nicht konnte. Noch nicht. Aber er würde es lernen. Von ihr. Sie schrie und kreischte bei jeder Kurve, ohne sich um die Meinung anderer kümmern. Nach der Fahrt sah sie ihn mit ihren grüne Augen, die unter ihren roten Locken wie Smaragde glitzerten, an. „Das war toll oder? Liebst du das nicht auch? Neue Dinge auszuprobieren und das Leben kennenzulernen?“ „Hmm, also ich bin das erste Mal solch ein Karussell gefahren.“ „Was?“ „Ja, ich bin nicht sehr abenteuerlustig und schätze meine Routinen.“ „Das müssen wir schleunigst ändern. Das Leben ist viel zu kurz, um immer die gleichen Dinge zu tun. Ich will die Welt kennenlernen. Vor allem will ich mal ans Meer. Du etwas nicht?“ „Doch, also vielleicht. Irgendwann bestimmt.“ „Gut, dass du mich getroffen hast. Lass uns erst mal klein anfangen. Also, was hast du noch nie gemacht?“ „Bitte lach nicht, aber ich habe noch nie Zuckerwatte gegessen.“ Sie lächelte und reichte ihm ihre Hand, die er ergriff. Den ganzen Tag über hatte Rudolf erste Male. Er trank Limonade, schoss am Schießstand und warf Ringe. Er fühlte sich wie ein kleines Kind, dass das Leben mit seinen Wundern bestaunt. Erst gegen Abend machten sie sich auf den Heimweg. „Mir tun die Füße weh.“ „Na bei den Schuhen.“ Du hast mich auch ganz schön auf Trab gehalten. Warte, lass uns kurz Pause machen.“ „Ich hab eine bessere Idee. Komm.“ Er drehte ihr den Rücken zu. „Wie?“ „Na spring auf.“ „Du willst mich doch nicht wirklich auf dem Rücken nach Hause tragen. Ich bin doch viel zu schwer. Es ist ein weiter Weg.“ „Noch viel weiter“, flüsterte er. „Komm spring auf, ich will vor Nachteinbruch noch in meinem Bett liegen. Du siehst, ich mache das total uneigennützig.“ „Ok.“ Trotz des langen Weges fühlte er keine Schwere in sich. Er verspürte Leichtigkeit. Vielleicht durch die vielen Schmetterlinge, die in seine Bauch flogen. Es war das erste Mal, dass er dieses Gefühl spürte. Vor ihrem Haus angekommen setzte er sie ab. Verlegen steckte er seine Hände in die Tasche, malte mit dem Fuß im Sand und blickte zu Boden. „War ein toller Tag. Falls du noch mal Lust hast, mich zu treffen…“ Sie umarmte ihn stürmisch und küsste ihn auf die Wange. „Hol mich morgen hier um 17:00 Uhr ab. Tschüss. Und schlaf gut.“ Von da an trafen sie sich regelmäßig. Elfriede veränderte ihn. Sie war immer optimistisch, liebte das Leben und tat das, wonach ihr war. An einem Sommertag lagen sie auf der Wiese an einem See. „Komm wir gehen Schwimmen.“ „Ne, ich habe doch keine Badesachen dabei. Ein anderes Mal.“ „Wer weiß, wann ein anderes Mal ist und ob wir es erleben. Wir haben nur diesen Moment. Komm schon, los.“ „Ich weiß nicht.“ Wir haben doch Unterwäsche an.“ Sie zog sich ihr Kleid aus und sah ihn herausfordernd an. „Und?“ Rudolf zögerte noch. „Na dann nicht. Ich gehe jetzt Schwimmen.“ Kreischend rannte sie in den See, warf sich ins Wasser und tauschte unter. Nach einigen Sekunden kam sie wieder an die Oberfläche, lachte laut und warf ihr rotes Haar zurück. Es war ein Moment voller Lebendigkeit und der Augenblick in dem Rudolf klar wurde, dass er Elfriede liebt. „Kommst du jetzt oder was?“ „Ja.“ Nur in Unterhose bekleidet folgte er ihr ins Wasser. Sie planschten und kabbelten sich. Dazwischen zog er sie sanft durch das Wasser. „Immer wenn ich mit dir zusammen bin, fühle ich mich sicher.“ „Und ich mich lebendig.“ Beide lächelten. „Was wünschst du dir vom Leben?“, fragte sie ihn, als sie wieder auf ihrem Handtuch lagen. „Das ist nicht schwer; dass es immer so ist, wie jetzt. Mit dir.“ „Wie ist es denn?“ „Leicht und unbeschwert. Innig und vertraut. Neu und doch bekannt. Das widerspricht sich oder?“ „Nein, finde ich gar nicht. In Beziehungen sollten sich Menschen immer wieder neu kennenlernen, indem sie gemeinsam Neues entdecken. Erst dann wird es leicht und unbeschwert und es entsteht Nähe, die auch den schweren Tagen standhält.“ Rudolf bleibt still. „Du sagst ja gar nichts?“ „Weil es nichts zu sagen gibt.“ „Sondern?“ Er zog Elfriede zu sich, blickte ihr tief in die Augen und küsste sie innig. Danach lachte sie. „Das hättest du auch früher haben können. Du wolltest es wohl spannend machen?“ „Ich habe auf den richtigen Moment gewartet.“ „Den gibt es nie. Er ist jetzt. Soll ich dir was verraten? Ich bin froh, dass du dieser Moment bist.“ Von da an waren sie ein Paar. 

Sie ermutigte ihn, seinen Träumen zu folgen. Er schrieb Kurzgeschichten. Auf ihren Rat hin sendete er seine Manuskripte an Verlage und bekam schließlich einen Vertrag. Beide feierten zusammen seinen Erfolg an ihrem See mit einem Mondscheinpicknick. Es war der Abend, an dem er die Fragen aller Fragen stellte. Er kniete vor ihr nieder, als sie eine Cola aus dem Korb nehmen wollte. „Elfriede, willst du mit mir für immer huckepack durchs Leben gehen.“ Sie schrie vor Begeisterung und warf sich ihm in die Arme. „Das heißt wohl ja.“ „Ja, du Dummkopf. Aber Hand in Hand und nicht Huckepack.“ „Wohin du willst. Ich muss dir aber noch etwas gestehen. Ich habe noch keinen Ring. Der Verlag schickt mir das Geld die verkauften Kurzgeschichten erst nächsten Monat.“ „Warte.“ Sie rannte zu einer grasbewachsenen Stelle, rupfte einige Gräser aus und kam zurück. Nachdem sie die Grashalme zu zwei Ringen zusammen geflochten hatten, lachte sie ihn freudestrahlend an. „Da, nun haben wir unsere Ringe. Also ersatzweise, bis die echten kommen.“ So war sie. Das Schöne im Einfachen entdecken. Sie streiften sich die Ringe über. „Nun sind wir offiziell verheiratet“, sagte sie. „Für immer. Du und ich.“ Sie umarmten sich und betrachteten den Sternenhimmel, der nur ihnen zu gehören schien. Das Leben schien so frei zu sein und all ihre Träume zum greifen nah. Sie malten sich ihre Zukunft mit fernen Reisen und Abenteuern aus. „Ich freue mich darauf, mit dir im Meer zu schwimmen und in die Sonne zu schauen.“ Nach ihrer bescheidenen Hochzeit ging es für ihn beruflich voran. Seine Kurzgeschichten fanden reißenden Anklang. Dann traute er sich, einen Roman zu schreiben. Er wurde ein Riesenerfolg und stand monatelang auf der Bestseller Liste. Ihre Träume vom Reisen rückten in weiter Ferne. „Wenn ich erst den zweiten Roman geschrieben habe, dann brechen wir auf“ vertröstete er Elfriede. Doch daraus wurde nichts. Er bekam eine Stelle an einer Universität als freier Lehrbeauftragter, um Studierende im kreativen Schreiben zu unterrichten. Sie wurde schwanger. Insgesamt drei Mal. Ihre Sehnsucht die Welt zu entdecken wich ihrer Verantwortung als Mutter. Immer wenn das Thema zur Sprache kam, sagte er zu ihr. „Wenn die Kinder erst mal erwachsen sind, dann brechen wir auf. Weißt du noch, ich habe es dir versprochen. Huckepack geht es nicht mehr, aber Hand in Hand sicherlich.“ „Ach Rudolf, ich habe Angst, dass uns keine Zeit mehr bleibt. Ich weiß auch nicht warum. Du kennst meine Einstellung. Vergangenheit und Zukunft zählen nicht. Alles ist jetzt. Wir planen seit Ewigkeiten und setzen doch nichts um. Irgendwann sind wir zu alt. Kannst du dir vorstellen, dass wir mit Krückstock im Sand herumstochern oder uns am Rollator festhalten, damit wir nicht in den Wellen untergehen?“ „Jetzt bist du aber zu weit in der Zukunft. Mein Schatz, was soll passieren? Wir haben genug Geld angespart, Jonas ist bald aus dem Haus und dann geht es los. Versprochen.“ Doch dazu kam es nicht mehr. Kurz vor seinen Ruhestand wurde Elfriede krank und verstarb nach kurzem Kampf. Alles ging so schnell, dass er es nicht realisieren konnte. Am Beerdigungstag fühlte er sich betäubt. Er stand vollkommen neben sich und konnte nicht weinen. Erst eines Abends, als ein kleines Päckchen bei ihm zu Hause ankam, brachen all seine Dämme. Es war von Elfriede. Sie hatte ihm ein leeres Fotobuch geschickt. Rudolf verstand nicht warum. Dann fand er die Flugtickets. Sie hatte ihm mehrere Flüge gebucht, in Länder, die sie bereisen wollten. Nachdem er das leere Buch durchgeblättert hatte, weinte er hemmungslos. Wie sollte er es ohne sie füllen? Sie war es, die ihn lebendig fühlen ließ. Ohne sie konnte er unmöglich auf eine Reise aufbrechen. Dann fand er ihren Brief und begriff, dass es wichtig war, ihren letzten Willen zu erfüllen. „Liebster Rudolf. Wenn du das liest, bin ich nicht mehr an deiner Seite, was mich unendlich traurig macht. Ich habe das Leben mit dir sehr genossen. Jeder Moment mit dir war kostbar. Ich danke dir dafür, auch für unsere wunderbaren Kinder. Zum Meer haben wir es nun nicht mehr geschafft. Dafür habe ich nun ein Meer an Erinnerungen, die ich auf meine letzte Reise mitnehme, wodurch so nicht so schwer sein wird zu gehen. Aber du Rudolf, du kannst unseren Traum noch verwirklichen. Weißt du noch? Es gibt nie den richtigen Moment, alles ist Jetzt. Irgendwie haben wir das vergessen, zwischen all dem Leben, das dazwischen kam. Und da ich kenne, habe ich für dich schon mal alles im Voraus geplant und gebucht. Du bereist die Länder, die ich mit dir besuchen wollte. Vergiss nicht, Fotos zu machen und sie unseren Kindern zu zeigen. Und mir, wenn du mich besuchst. Nun Rudolf, sei der Moment Leben. Für mich. Ich liebe dich. Deine Elfriede.“

Er trinkt von seinem Kaffee und beißt in seinen Marmorkuchen, während ihm eine Träne über die Wange läuft. Dann schaut er in den Spiegel und lächelt. Er sieht seinen schokoverschmierten Mund und flüstert: „Du bist mir so nah. Und das wirst du immer sein.“

Anne wendet ihren Blick vom älteren Mann ab. Sie hat das Gefühl eine Geschichte entdeckt zu haben. Sie hat etwas mit Liebe zu tun. Da ist sie sich sicher. Sie hat es seiner Mimik gelesen. Das ist es. Endlich. Sie wird eine Liebesgeschichte schreiben. Motiviert legt sie ihre Finger auf die Tastatur, um mit dem Schreiben zu beginnen. Doch sie fühlt sich blockiert und findet keinen Anfang. „Gut, gehen wir die Sache anders an. Was bedeutet Liebe für mich? Was ist mir wichtig in einer Partnerschaft?“ Im Geiste geht sie ihre Beziehungen durch. Es sind viele, alle nicht von langer Dauer. Ein ungutes Gefühl überkommt sie. Stimmt mit ihr etwas nicht? Ihr wird bewusst, dass sie immer nach demselben Muster verfährt. Spätestens nach 4 Monaten findet sie etwas an ihrem Gegenüber, was sie stört, weshalb sie die Beziehung beendet. Robert ist die Ausnahme. Er hat mit ihr Schluss gemacht hat. Erneut fühlt sie einen Stich in ihrem Herzen. Doch sie will ihren Schmerz nicht zulassen. „Er ist doch der Idiot, wenn er mich gehen lässt.“ Sie beißt in ihr Törtchen,. Es wird im Mund immer voller. Sie würgt den Bisse herunter. Danach überkommen sie Wut und Frust. „Er hat mich in die Ecke gedrängt, mir keine Zeit gelassen. Nur, weil ich nach 8 Monaten noch nicht wusste, ob ich mit ihm zusammenziehen will.“ Er hatte ihr gesagt, dass er nicht mit einer Frau zusammen sein kann, die ihm nicht einmal eine Schublade in ihrer Kommode frei machen will. „Erst die Schublade, dann der Kleiderschrank und schließlich das ganze Leben. Und für was? Nur am Ende wieder alles heraussuchen zu müssen, wenn man sich trennt, was früher oder später sowieso passiert. Vor allem, wenn man zusammen wohnt. Der Alltag trennt jedes Paar. Eigenschaften, die man gerne verstecken möchte, liegen auf einmal blank geputzt auf dem Küchentisch und führen zu Streitigkeiten. Wer bringt den Müll herunter? Wer geht einkaufen? Was sollen wir heute Essen? Ich weiß, wie das endet. Ich habe es selbst erlebt. In der Ehe meiner Eltern, die sich Stück für Stück aufgelöst hat, bis von der Liebe nichts mehr blieb, als eine leise Erinnerung, die auf einem alten Hochzeitsfoto flüstert. Dieser Lebensentwurf ist nichts für mich. Ich bin ein Freigeist. Robert hat einfach nicht zu mir gepasst. Vielleicht ist die Liebe auch nichts für mich. Sich ständig mit dem anderen auseinanderzusetzen zu müssen, Kompromiss einzugehen, damit alle Beteiligten glücklich sind, dass ist einfach nicht das, was ich vom Leben will. Ich lebe frei und selbstbestimmt. Und genau darüber werde ich schreiben. Über eine Frau, die ohne Männer ihren Weg geht und ihr Glück findet.“ Entschieden beißt sie in ihr Törtchen. Es schmeckt bittersüß, Sehnsucht und Trauer kommen in ihr hoch. Ist es wirklich das, was sie will? Allein durch das Leben zu gehen ohne einen Partner an ihrer Seite, mit dem sie es teilen kann? Oder belügt sie sich nur selbst? Vielleicht ist nicht die Liebe das Problem, sondern sie? Sie schaut auf und sieht wie ein junger Mann das Café betritt. Die Frau gegenüber springt auf und läuft ihm in die Arme. Nach einem minutenlang Kuss sagt sie: „Endlich bist du wieder bei mir. Ich habe dich so vermisst.“ „Und ich erst. Komm, lass mich bezahlen und dann gehen wir zu dir.“ Sie lächelt glücklich. Hand in Hand verlassen sie einige Zeit später das Café. 

Anne blickt dem jungen Paar nach. Wenn sie so unabhängig und selbstbestimmt ist, warum fühlt sie Neid beim Anblick der glücklich Verliebten? Sie stellt fest, dass sie nicht nur Schwierigkeiten damit hat, Entscheidungen zu treffen und in ihren Prioritäten schwankt, sondern, dass sie auch nicht weiß,wer wie wirklich ist und was sie sich vom Leben wünscht. „Wer bin ich überhaupt? Unter all dem, was ich glaube zu sein?“ Sie hört ein Rauschen. Das kleine Mädchen flüstert in ihr. Es erzählt von ihrem Schmerz, den sie seit Jahren verdrängt. Sie will ihn nicht hören, fühlen oder über ihn sprechen; wie die drei Affen stellt sie sich taub, bleibt stumm und sieht nicht hin, wenn jemand ihre Verletzung berührt. Stattdessen flieht sie, taucht ab und beginnt von neuem. Wenn sie ihren Kreislauf durchbrechen will, muss sie sich erinnern; ihren Schmerz hören und fühlen. Ist sie bereit dazu?

Anne blickt zum Nachbartisch, an dem eine Mutter mit ihrem Baby und ihrer kleinen Tochter sitzt. Die Kleine ist fünf oder sechs. Sie malt inbrünstig an ihrem Bild. Nichts bringt sie davon ab. Weder der Lärm, der sie umgibt noch ihre Mutter, die unentwegt mit ihrem Geschwisterkind spricht. Sie ist im Moment vertieft und wirkt glücklich. Dann ist sie mit ihrem Bild fertig. „Schau mal Mama.“ „Ja ,das sieht toll aus. Eine schöne Sonne.“ „Das ist ein Polarstern. Das sieht man doch.“ „Natürlich mein Schatz, verzeih bitte. Sieht ganz toll aus.“ Das kleine Mädchen grinst und sagt. „Auf dem Polarstern kommt der Weihnachtsmann und bringt seine Geschenke. Die Rentierte sind nämlich müde. Die machen dieses Jahr Pause.“ „Ah, ach so. Dann sind die vielen bunten Punkte die vom Polarstern fallen Geschenke?“ „Genau. Aber nur für Kinder, die brav waren. Oder Mama?“ „Das sagt man so. Aber Kinder sind immer brav. Auch wenn sie es nicht sind.“ „Das klingt komisch. Wie meinst du das?“ „Ihr müsst die Welt erkunden und dazu gehört es, Fehler zu machen.“ „So wie beim Fahrrad Fahren hinzufallen oder beim Laterne basteln in die Pappe zu schneiden?“ „So in etwa. Jedenfalls können Kinder gar nicht böse sein. Sie entwickeln sich, zusammen mit uns Eltern. Wir begleiten euch beim Erkunden der Welt und schaffen einen Rahmen dafür.“ „Was soll das sein, ein Rahmen?“ „Na, Regeln, die fürs Leben wichtig sind.“ „Ah, nicht mit vollem Mund sprechen oder Mama.“ Das kleine Mädchen lacht. „Genau. Und ab und an kommt es vor, dass Kinder Regeln umgehen. Das gehört dazu. Sie probieren sich aus.“ Die Kleine beißt in ihr Brötchen und spricht: „So, Mama?“ Sie lacht wieder. „Ja, genau so. Dann kommen wir Eltern wieder ins Spiel und helfen euch, sich an die Regeln zu erinnern.“ „Wenn alle Kinder immer brav sind, dann verdienen sie alle Geschenke oder?“ „Ja, weil alle Kinder, also alle Menschen, liebenswert und einzigartig sind. Schon dafür verdienen sie ein Geschenk.“ „Toll.“ Die Kleine umarmt ihre Mutter. „Ich will dieses Jahr gar keine Geschenke. Ich gebe meine an andere Kinder, die sie eher brauchen als ich. Denn ich weiß ja, dass ich gut bin wie ich bin, weil du es mir jeden Tag sagst. Mehr brauche ich nicht.“ Beide lächeln sich an. „Das schönste Geschenk mein Schatz ist die Liebe, die man füreinander teilt und empfindet.“ 

Anne spürt einen Kloß im Hals. Ihre Augen werden feucht. Liebe, etwas, nachdem sie seit Jahren sucht, aber nicht findet. Sie denkt an ihre Kindheit zurück. 

Nach der Scheidung ihrer Eltern, blieb sie bei ihrer Mutter. Sie war damals sieben Jahre alt. Ihren Vater hat sie nie wieder gesehen. Dennoch träumte sie jede Nacht von ihm. Er war ihr Ritter mit dem Schwert, der sie vor dem bösen Drachen rettete. Ihre Mutter zeigte kein Interesse an ihr. Sie wurde bei ihrer Oma geparkt oder von Au Pairs betreut, während sie arbeitete oder ausging. Es gab keinen Platz für sie in ihrem Leben. Das zeigte sie ihr deutlich. Sie vergaß Elternabende, Hockeyturniere und gemeinsame Verabredungen. Einmal wartete sie nach der Schule bis in den Abend auf sie. Sie hatte vergessen sie abzuholen. Irgendwann rauschte sie in ihrem roten Cabrio an. Mit hoher Geschwindigkeit fuhr sie vor und stieg lächelnd aus dem Auto. „Oma hat mich angerufen.Sie hat sich Sorgen gemacht. Wir hatten doch ausgemacht, dass du heute zu ihr gehst. Ich hatte heute wichtige Meetings. Das hatte ich dir gesagt. Nun steig schnell ein, ich muss los. Heute Abend bin ich zum Essen verabredet.“ So war sie. Hoppla hier komm ich. Kein Wort der Erklärung oder Entschuldigung. Schuld waren die anderen. Darüber wurde nicht diskutiert. Anne setzte sich ohne Widerworte in das Auto. Während der Fahrt weinte sie. Sie war sich sicher, dass ihre Mutter ihr versprochen hatte, sie abzuholen, um mit ihr ein Eis essen zu gehen. „Was weinst du denn jetzt? Ach komm schon. Es gibt keinen Grund dazu. Ich kauf dir morgen etwas Schönes. Neue Lackschuhe. Oder die Puppe, die du letztens wolltest. Und nun beruhige dich. Ok?“ Anne wischte sich die Tränen aus den Augen und nickte. Sie traute sich nicht ihr zu sagen, was sie wirklich fühlte. Dabei hätte sie sich in diesem Moment nichts sehnlicher gewünscht, als das ihre Mutter sie in den Arm nimmt und ihr sagt, dass sie ihr wichtig ist. Doch das tat sie nie. Bis heute hat sie nie „ich liebe dich“ zu ihr gesagt. 

Sie lernte früh, dass ihr Menschen keine sicher Bindung geben können. Der Tod ihrer Oma traf sie hart. Sie war die einzige, die ihr Halt gab und ihr Liebe zeigte. Im Alter von 10 hatte sie zwei schwere Verluste erlitten. Der Schmerz den sie fühlte, grub sich tief in ihr ein. Er war derselbe, den sie fühlte, als sie ihren Vater verlor. Danach stumpfte sie innerlich ab und gewöhnte sich an ihre Bezugspersonen in Form von Au Pairs, mit denen sie nie in Beziehung trat. Sie öffnete sich nicht mehr und ließ nicht auf Beziehungen ein, aus Angst wieder verlassen oder verletzt zu werden. Freundschaften blieben oberflächlich und Männer wurden Mittel zum Zweck; sie sollten ihre innere Leere, dies sie damals schon verspürte, füllen. Das erste Mal verliebte sie sich mit 14 Jahren. In Sebastian. Sie mochte sein Zahnspangenlächeln und die Grübchen am Kinn. 3 Monate gingen sie miteinander. Er himmelte sie an. Das gefiel ihr, langweilte sie aber auch schnell. Dann kam Tim. Er hatte ein Mofa, mit dem er mit ihr zum See fuhr. Auch diese Freundschaft hielt nicht lang. Wie alle anderen, die ihr folgten. Bis heute war sie durchgängig in kurzen Partnerschaften. Immer wenn es ihr zu eng oder zu persönlich wurde, brach sie aus. Nähe empfand sie als gefährlich, Bindungen als nicht sicher. Das hatte sie gelernt. Von ihrem abwesenden Eltern. Ihr Muster hatte Anne nie hinterfragt. Es hatte ihr nie viel ausgemacht, dass Männer kamen und gingen. Sie war nie lange alleine. Bis jetzt. Seit Robert mit ihr Schluss gemacht hat, ist sie Single. Das ist 5 Monate her. 

„Was ist eigentlich so schlimm an einer Schublade“, sagt sie laut. „Gar nichts. Manchmal sind sie recht nützlich, wenn man Dinge, die man nicht sehen möchte, wegpacken will.“ Überrascht dreht sich Anne um. Hinter ihr sitzt eine ältere Dame. Sie nickt ihr höflich zu und erwidert: „Das ist ein interessanter Gedanke. So habe ich das noch gar nicht gesehen.“ Sie betrachtet die fremde Frau. Sie lächelt verlegen. Irgendetwas berührt sie in ihr, weshalb Anne sie an ihren Tisch einlädt. Nach einer Bestellung von zwei Tassen Tee stellen sie sich einander vor. 

„Nun Gertrud, freut mich Sie kennenzulernen. Wie haben Sie das eigentlich vorhin mit der Schublade gemeint?“ „Ich habe mich auf Erinnerungen bezogen, die schmerzhaft sind. So schmerzhaft, dass wir sie in uns verstecken, um nicht mehr an sie denken zu müssen.“ „Interessante Sichtweise. Die Frage ist nur, ob das auf Dauer funktioniert.“ „Das tut es nicht. Irgendwann quillt die Schublade über, so dass wir gezwungen sind, sie auszupacken. Ob wir wollen oder nicht.“ „Das hört sich so an, als hätten sie Erfahrung damit?“ Gertrud seufzt. Ihre Auge verlieren ihr Strahlen. Sie legt ihre Hände auf die wärmende Teetasse und schweigt.. „Es tut mir leid, wenn ich ihnen zu nahe getreten bin.“ „Nein, nein es ist schon gut. Ich habe nur noch nie mit jemanden darüber gesprochen und weiß nicht, wo ich anfangen soll.“ „Lassen Sie sich Zeit, ich bin nicht in Eile.“ Nach einer Weile räuspert sich Gertrud und beginnt zu erzählen. 

„Wissen sie, in ihrem Alter war ich eine Suchende, die niemals ankommt. Vor allem nicht bei sich. Ich habe mein Leben gelebt. Bin ausgegangen, hatte Spaß mit Bekannten und war beliebt bei Männern. Lange war ich nie allein. Mir ist es immer gelungen, sie für mich zu begeistern. Lange wusste ich nicht warum. Erst viel später habe ich verstanden, was mich so anziehend für sie gemacht hat. Ich habe mich jedem Mann, den ich traf, angepasst. Das ging so weit, dass ich den gleichen Leidenschaften nachging. Einmal habe ich sogar angefangen Schach zu spielen, obwohl ich es langweilig fand. Doch ich redete mir ein, dass es mir Spaß macht, bis ich es wirklich glaubte. Man könnte also sagen, dass ich die perfekte Partnerin für jeder Mann war. Zumindest für eine Weile. Irgendwann stellte sich ein Gefühl von Leere ein, dass ich schon vor dem Beginn jeder Partnerschaft empfunden habe. Es gab nichts, woran ich mich festhalten konnte. Nicht an mir, nicht an anderen. Heute weiß ich, dass ich diese Leere empfunden habe, weil ich mich selbst nicht mochte. Ich fühlte mich unbedeutend und unwichtig, weshalb ich von Mann zu Mann zog, um die Liebe zu finden, die ich mir selbst nicht geben konnte. Letztlich habe ich nur nach Heimat gesucht, die ich niemals hatte. Ich bin nicht gerade warmherzig aufgezogen worden. Meine Eltern wollten keine Kinder mehr. Ich war die Nachzüglerin und nicht geplant. Ich war unerwünscht, jedenfalls fühlte es sich so an für mich. Mir wurde wenig Interesse entgegen gebracht. Wenig Liebe und Wertschätzung. Sätze wie „Du bist wirklich anstrengend. Immer willst du etwas“, „Deine Schwester Bettina war in deinem Alter schon viel selbständiger“ oder „Hilf lieber mal im Haushalt anstatt Spagat zu üben oder anderen Firlefanz; wir haben genug zu tun“, waren an der Tagesordnung. Also habe ich ich angepasst. Ich war besonders lieb und habe meinen Schwestern nach geifert. Alles für ein wenig Lob und Anerkennung. Erhalten habe ich sie nie. Obwohl ich mich den Wünschen und Erwartungen meiner Eltern angepasst habe. Genau das habe ich eben auch später bei den Männern gemacht. Es war der einzige Weg für mich, mich geliebt zu fühlen; Dinge für andere tun, um anderen zu gefallen. Das war besser, als alleine zu sein. Ich konnte mich nicht aushalten. Zu schwer wog der Gedanke, dass ich eine Last bin und nichts wirklich gut kann. Mit dieser Strategie kam ich gut durchs Leben. Sie war sozusagen meine Schublade, die immer voller wurde, weil ich nicht bereit war, in sie hinzusehen. Dann traf ich Karl. Er war anders. Karl wollte mich wirklich kennenlernen, hinter meine Fassade blicken, herauszufinden, wer ich wirklich bin. Immer wieder fragte er mich bei unseren Verabredungen, was mir wichtig ist, wovon ich träume und wie ich mein Leben gestalte will. Auf meine Gegenfragen, die von meiner inneren Leere ablenken sollten, antwortete er jedes Mal, dass er wissen will, was ich denke. Zum ersten Mal wirkte meine Strategie, die ich jahrelang erfolgreich angewendet hatte, nicht. Ich wurde auf mich zurückgeworfen, wurde gezwungen, in meine Schublade zu blicken. Doch dazu war ich nicht bereit. Ich wollte mich meinem Schmerz, den ich jahrelang verdrängt hatte, nicht stellen. Denn das hätte bedeutet, dass ich mich wirklich auf Nähe hätte einlassen müssen, die mir meine Unzulänglichkeit mich auf Beziehung einzulassen, aufgezeigt hätte. Wenn man einen Menschen trifft, der einem viel bedeutet, wird man nackt. Man kann sich nicht verstecken, früher oder später fallen die Masken und man zeigt sich wie man ist. Mit all seinen Stärken und Schwächen. Nur das schafft Intimität und Nähe, die aneinander bindet. Alles andere sind Oberflächlichkeiten. Mehr nicht. Ich wollte nicht, dass Karl erkennt, wie leer ich bin. Dass ich eigentlich gar nichts weiß, vor allem nichts über mich. Weder wer ich bin noch noch was ich will oder mir wichtig ist. Die Vorstellung, dass er feststellt, wie unbedeutend und unzulänglich ich eigentlich bin, machte mir solche Angst, dass ich den größten Fehler meines Lebens beging. Ich ließ eine Verabredung mit Karl einfach platzen. Wir waren zum Abendessen verabredet, doch ich bin einfach nicht hingegangen. Seine Kontaktversuche danach habe ich ignoriert. Ich litt wirklich sehr, redete mir aber ein, richtig gehandelt zu haben. Früher oder später hätte er mich sowieso verlassen. Erst Jahre später begriff ich, um welches Glück ich mich betrogen habe. Nur, weil ich mich meinem Schmerz nicht stellen wollte und mich von meiner Angst leiten ließ. Bei einem Spaziergang sah ich Karl zufällig und beobachtete ihn eine Weile. Er saß mit seiner Frau und seinen Kindern im Café. Alle saßen lachend am Tisch mit Eis und Kuchen. Sie schnitten Grimassen und lachten. Er wirkte glücklich und zufrieden. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich die Frau an seiner Seite hätte sein können. Das hätte meine Familie sein können. Stattdessen lebte ich allein, in einer kleinen 1-Zimmer-Wohnung ohne bedeutsame Beziehungen oder Freundschaften. Ich habe nie wieder jemanden getroffen, der mein Herz berührt hat. Karl hat mir immer kleine Botschaften hinterlassen, wenn er morgens zur Arbeit ging. Ich habe sie alle aufgehoben. Auch die Blumen, die er mir geschenkt hat. Alle Männer, den ich danach getroffen habe, blieben nicht mehr als eine Affäre.Bis heute.“ „Das tut mir wirklich sehr leid Gertrud.“ Anne nimmt ihre Hände und hält sie fest. Sie kann den Schmerz von ihr gut verstehen und erkennt sich in ihr wider. Auch sie ist eine Suchende ohne Ziel und füllt ihre Schublade mit dem Schmerz aus ihrer Kindheit, den sie nicht fühle will. Dabei wünscht sie sich nichts sehnlicher als geliebt zu werden. Von ihrer Mutter, zu der sie keinen Kontakt mehr hat. Von ihrem Vater, den sie Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat. Und von Robert, den sie wegen ihrer Angst vor Nähe, die er verlangt hatte, gehen ließ, ohne ihm zu sagen, was er ihr wirklich bedeutet. Die Gefahr, dass er sie früher oder später verlassen oder ablehnen würde, wie es ihre Eltern getan hatten, war zu groß. Daher hat sie ihn lieber gehen lassen anstatt erneut verletzt zu werden. Anne fühlt eine tiefe Traurigkeit in sich. Sie gesteht sich ein, dass sie nicht glücklich ist und, dass es an der Zeit ist, etwas daran zu ändern. „Darf ich Sie etwas fragen Gertrud?“ „Nur zu.“ „Was würden Sie ihrem damaligen Ich sagen, wenn Sie die Möglichkeit dazu hätten?“ „Du bist einzigartig und wunderbar. Wenn du das erkennst, gibt es nichts, vor dem du dich fürchten musst. Außer, dass du dir selbst die Chance nimmst, glücklich zu sein, weil du dir die Liebe aus Angst verbietest. Nicht die Liebe fügt dir Schmerzen zu, sondern du selbst. Indem du anderen nicht die Möglichkeit gibst, hinter deinen Spiegel zu blicken und dich zu lieben.“ „Das hast du schön gesagt. Ich darf dich doch duzen oder?“ „Gerne Anne.“ Weißt du was, ich glaube es ist Zeit, meine Schublade auszupacken.“ „Ich weiß meine Liebe. Deswegen habe ich dir meine Geschichte erzählt.“ Beide lächeln sich innig an. 

Spät am Nachmittag verabschiedet sie sich von Gertrud, mit der sie Nummer ausgetauscht hat. Nächste Woche wollen sie sich wieder im Café treffen. Auf dem Weg nach Hause bleibt sie vor einem Schaufenster stehen, blickt in ihre Spiegelung und lächelt. Ihre Schublade öffnet sich, ein kleines Stück. 

Geist und Dunkelheit

Poeten

Stille

November