Nach einigen Nervenzusammenbrüchen, den Drang eine andere Idee zu verfolgen, weil es einfach nicht so werden will, wie ich es mir vorstelle, veröffentliche ich eine Kurzgeschichte, die es doch zu Ende geschafft hat und zu der ich folgende Triggerwarnung geben möchte/muss: Schimpfworte, Horrorelemente, psychische Erkrankung und Missbrauchserfahrungen (werden angedeutet, nicht ausführlich beschrieben).
Der Wolf ist auf der Jagd,
gibt acht,
halt dich fern vom Dunkelwald,
er hat dich zum fressen gern,
mit Haut und Haaren,
bis nichts mehr übrig ist.
August 1873
Wir sind verheiratet. Das Fest ist prunkvoll. Unter dem großen Kronleuchter im Saal findet unser Hochzeitstanz statt. Alle starren uns an, während mich Karl im Kreis dreht. Mir ist schwindelig und ich atme schwer. Trotz allem bewahre ich die Fassung, lasse mich führen und bemühe mich, glücklich auszusehen.
In der Nacht vollziehen wir die Ehe. Er nimmt sich, was er will und ich lasse es zu, obwohl es mir widerstrebt. Während des Aktes spüre ich nichts und gleite davon. Ich verlasse ich meinen Körper und beobachte uns aus der Vogelperspektive. Zwei schemenhaften Wesen kopulieren miteinander, ohne sich wirklich zu berühren.
Nach unserem Treiben sagt Karl zu mir, dass wir einen Erben gezeugt hätten, dreht sich zur Seite und schläft ein.Während er friedlich vor sich hin schnarcht, übermannen mich Wutgefühle. Ich balle die Fäuste, schnappe mir mein Kissen und schreie hinein. Ermattet von meinem Gefühlsausbruch schlafe ich ein. In der Nacht suchen mich Albträume heim. Ein wilder Wolf verfolgt mich im Wald. Ich finde keinen Schutz und bin ihm ausgeliefert. Kurz bevor er mich zerfleischen will, wache ich auf und höre eine Stimme, die zu flüstern beginnt.
September 1873
Das Leben in diesem Haus ist einsam. Bilder von Toten beobachten mich, die Dielen knarren bei jedem Schritt und nachts poltert es vom Dachboden. Die Luft wird jeden Tag dünner. Während Karl tagsüber seinen Geschäften nachgeht, sitze ich im Sessel des Arbeitszimmers und versuche zu lesen. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen und ich treibe davon. Ich folge der Frauenstimme, die seit der Hochzeitsnacht bedrohlich in mir flüstert. Wortfetzen wie „Sünderin“ oder „Gottlose“ hallen in mir nach.
Einzig das Treiben unserer Dienstbotin Anna und die Anwesenheit von Karl dämmen das Flüstern ein. Wenn er abends nach Hause kommt, essen wir zusammen und führen oberflächliche Gespräche. Alle drei Tage muss ich meinen Ehepflichten nachkommen. Wenn er eingeschlafen ist, wandere ich im Haus umher, getrieben von Zorn und Bitternis. Mit dem ersten Tageslicht wache ich im Sessel des Arbeitszimmers auf und schleiche mich zurück ins Schlafgemach, in dem ich keine Ruhe finde, weil mich der Wolf nachts immer wieder heimsucht.
Oktober 1873
Seit einigen Tagen fühle ich mich kraftlos. Ich bleibe im Bett liegen, schlafe durch meine Albträume unruhig oder dämmere vor mich hin. Zwischendurch übergebe ich mich. Karl ist der Ansicht, dass ich in freudiger Erwartung bin. Ich empfinde keine Freude, sondern Angst, weil ich spüre, dass ich mich verliere. Seit kurzem flüstert eine neue Stimmen in mir. Ein Kind weint und sagt: „Nein, bitte nicht.“ Der Wolf jault vor meinen Augen. Pure Panik und Todesangst steigen in mir auf. Kurz bevor mich diese Gefühle übermannen, falle ich in einen tiefen Schlummer, aus dem ich ohne Erinnerung erwache.
November 1873
Die Tage, die ich im Bett verbringe, sind dunkel. Mittlerweile flüstert es aus allen Ecken. „Er wird dich jagen“, „Er wird dich finden.“ „Er wird dich fressen“, warnt mich die Kinderstimme. Eine Frau lacht hämisch, „Du kannst ihm nicht entkommen. Töte ihn, bevor du gefressen wirst.“ Mein Herz rast und mein Atem stockt. Ich will fliehen, doch ich kann es nicht. Schweißgebadet wälze ich mich im Bett hin und her, bevor mich in meinen Vorstellungen der Dunkelwald und vollkommen verschlingt.
Januar 1874
Seit Neujahr kann ich wieder das Bett verlassen. Der Arzt meint, dass die Schwangerschaft mir die Kraft nimmt und mich nervös werden lässt. Bis zur Geburt soll ich mich auszuruhen, Suppe essen und Tee mit Heilkräutern trinken. Er schmeckt bitter, weshalb ich sie in den Ausguss schütte. Ich fühle mich wie eine Gefangene im eigenen Körper. Karl und das Kind bestimmen über mein Leben. „Ich will keine Ehefrau sein. Ich will nicht Mutter sein.“ Die Wutstimme wird immer lauter. Sie spricht ständig zu mir und stellt sich vor, was wäre, wenn Karl stirbt und ich das Kind verliere. Erschrocken über diese widerwärtigen Gedanken bete ich voller Scham zu Gott um Vergebung.
Februar 1874
Ich leide unter schrecklichen Kopfschmerzen und grenzenloser Übelkeit. Die abscheulichen Vorstellungen nehmen von Tag zu Tag zu. In meinen Vorstellungen sehe ich, wie ich Karl mit einem Kissen ersticke und mich danach von der Treppe stürze, um das Kind zu verlieren. Wenn ich wieder bei mir bin, verliere ich die Fassung und weine, weil Gott meine Gebete nicht erhört. Ich bin verloren. Eine Sünderin vor dem Herren, ohne Hoffnung auf Erlösung.
März
Hässliche Bilder ziehen an meinen Augen vorbei und hasserfüllte Worte dröhnen in meinen Ohren. Die wütende Frau tut was sie will und schimpft auf die Männer, die Frauen die Seele nehmen.
Zeit und Raum verlieren sich. Ich blicke auf die Wanduhr im Arbeitszimmer, in dem ich die meiste Zeit verbringe, und stelle fest, dass drei Stunden vergangen sind.
Hinter dem Kissen des Sessels finde ich zerknüllte Papiere mit grotesken Zeichnungen von wütenden Fratzen. Etwas kämpft in mir, will an die Oberfläche kommen und ich weiß nicht, ob ich den Kampf um meine Seele gewinnen werde.
April 1874
Mich plagen heftige Albträume. Der Wolf jagt mich durch den Wald und umkreist mich bedrohlich. Mit jeder Nacht kommt er ein Stück näher. Ich wache auf und spüre ein bedrohliches Rauschen, das in mir nachhallt. „Der Wolf im Schafspelz liegt direkt neben dir“, flüstert es in mir. Voller Hass blicke ich auf Karl und ziehe meine Mundwinkel verächtlich nach oben. Dann falle ich in einen komatösen Schlaf.
Mai 1874
Es geschehen Dinge, die ich mir nicht erklären kann. Morgens wache ich mit nassem Nachthemd und schmutzigen Füßen auf. Ich wasche die Laken, mein Kleid und mich. Danach blicke ich den Spiegel und erblicke eine Frau, die ich nicht kenne. Ihre eng stehenden Augen funkeln und ihr zusammengepresster Mund ist blutrot. Ich berühre sie und spüre, wie ich durch den Spiegel gehe. Für die nächsten Stunden bin ich eine andere, bis Karl oder Anna meinen Namen rufen. Ich schrecke hoch, betrachte meinen Bauch und fühle mich fremd im eigenen Körper. Die Wut schreit. Voller Sehnsucht wünsche ich mir, wieder abwesend zu sein, um in die Stille gleiten zu können.
Juni 1874
Die Geburt steht kurz bevor. Ich empfinde keinerlei Muttergefühle und betrachte das Kind, das Karl Max nennen will, als Fremdkörper in mir, den ich abstoßen will. Wenn ich nicht abwesend bin, ist meine Wahrnehmung verzerrt. Die Gesichter von Karl und Anna wandeln sich zu Fratzen, die hämisch hinter meinem Rücken lachen. Ich drehe mich um und bemerke, dass sie Tätigkeiten nachgehen und mich keines Blickes würdigen. Ein anderes Mal höre ich beide miteinander tuscheln. „Wenn das Kind geboren ist, müssen wir uns ihrer entledigen.“ Im nächsten Moment realisiere ich, dass er unser Abendessen in Auftrag gibt. Ich kann mir mit nichts mehr sicher sein. Alles ist oder auch nicht. Ich bin oder auch nicht. Wer bin ich?
Juli 1874
Karls Freude ist groß, sein Erbe wurde geboren. Er liegt auf meine Brust, sein Schreien dröhnt in meinen Ohren. Ich kann ihn kaum ansehen und bin froh, dass er sich seiner annimmt. Wie ich ihn stillen soll, weiß ich nicht. Schon der Gedanke daran lässt mein Herz zusammenschrumpfen. Es muss eine andere Möglichkeit geben, denke ich und falle in einen Dämmerschlaf. Grauer Nebel umgibt mich und lichtet sich. Der Wolf ist verschwunden. Ich empfinde Ruhe und Frieden. Vielleicht wird jetzt alles gut. Voller Hoffnung wache ich wieder auf. Karl sagt, dass ich drei Tage geschlafen habe. Die Frau und das Kind schweigen. Zum allerersten Mal. Die Stimmen sind weg. Ich sehe wieder klar; das Gesicht meines Ehemanns und meines Sohnes. Der Kampf ist gewonnen.
August 1874
Ich versuche ihn zu versorgen und mich an ihn zu gewöhnen. Die Mutterliebe, die ich fühlen sollte, empfinde ich weiterhin nicht. Beim Flasche geben blicke ich ihn an und frage mich, ob er wirklich ein Teil von mir ist. Er wirkt fremd auf mich. Seine Schreie kann ich kaum aushalten. Immerzu will er etwas von mir. Er ist nie zufrieden und niemals satt. Nur in Karls Armen ist er still. Er scheint mich ebenso abzulehnen, wie ich ihn. Ich bin jedes Mal froh, wenn ich ihn Anna geben kann, die ihn inbrünstig versorgt, während ich mich davon stehle und mich schlafen lege, um meine Müdigkeit, die mich seit ein paar Tagen permanent übermannt, zu stillen.
September 1874
Das Kind schreit nachts, durchdringend und anhaltend. Er ist übermüdet und bittet mich, nach ihm zu sehen. Also nehme ich ihn widerwillig aus seinem Bett heraus, wiege ihn in meinen Armen oder füttere ihn. Ich tue alles, damit er endlich still ist und schläft. Danach setze ich mich in den Schaukelstuhl und beobachte ihn. Obwohl er friedlich wirkt, ist er ein Raubtier. Früher oder später wird er jagen und fressen. Alle Männer tun das. Nachts, in der Dunkelheit, wenn Frauen in ihrem Schlaf Frieden suchen. Selbst Väter mit ihren Töchtern. Die unbändige Wut kommt wieder in mir hoch und ich versuche mich zu beruhigen, indem ich meine Finger knete. Irgendwann schlafe ich ein. Als ich aufwache steht Karl an seinem Bett und tadelt mich vorwurfsvoll. Eine Mutter habe ihren Pflichten nachzukommen, die ihr von Gott auferlegt worden seien. Sich nicht um sein Kind zu kümmern, sei eine Sünde. Ich solle um Vergebung beten und Buße tun. Er hält ihn schreiend im Arm und verlässt den Raum. Die Tür zu unserem Schlafzimmer fällt krachend ins Schloss. Ich bleibe allein zurück und fühle, wie die Wut wieder erwacht und zu schreien beginnt.
Oktober 1874
Anne beobachtet mich argwöhnisch und redet kaum mit mir. Die Beziehung von Karl und mir ist angespannt. Er hält mir nach, dass ich mich genügend um das Kind kümmere. Ich lege keinen Wert auf seine Worte. Die Stimme sagt mir, was er wirklich will. Mich besitzen, mich demütigen und verletzen. Also ertrage ich seine Predigten und gelobe Besserung, um ihn zu besänftigen, bis die Zeit gekommen ist. Ich spüre, wie sich die Gitterstäbe von meinem alten Selbst lösen damit etwas an die Oberfläche kommt, was sich nicht mehr verstecken will. Ich lasse es geschehen. Die Dunkelheit ist greifbar, der Wolf ist kurz davor, mich zu holen.
November 1874
Ich sitze am Frühstückstisch und trinke meinen Kaffee. Karl geht seinen Geschäften nach. Er schreit. Ich reagiere nicht. Anna kommt dazu und versorgt ihn. Mit einem vielsagenden Blick kehrt sie in die Küche zurück. Als ich ins Bett gehen möchte, um zu schlafen, läuft sie mir nach. „Ich habe sie gesehen.Damals, vom Fenster aus. Sie sind im Nachthemd und bloßen Füßen umhergewandert und in den See gegangen. Kurz bevor ich den Herrn zur Hilfe holen wollte, sind sie ins Haus zurückgekehrt. Seitdem weiß ich, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Ich beobachte sie seit Längerem und höre sie nachts, wie sie durch das Haus laufen; wie sie mit sich selbst reden und grauenhafte Dinge von sich geben, die ich nicht wiederholen mag. Mit einer Frauenstimme, die ich nicht kenne. Lange habe ich meinen Mund gehalten, doch nun leidet ihre Familie unter ihrem Verhalten. Sie wirken teilnahmslos und wirr. Ich muss es dem Herren sagen, bevor noch etwas Schlimmes passiert.“
Später am Abend kehrt Karl nach Hause. Ich bin seltsam ruhig und spüre Frieden in mir. Das Kind schläft selig in seinem Bett. Es hat seit mehreren Stunden nicht geschrien. Das Essen steht auf dem Tisch. Ich habe gekocht. Anna ist zu Bett gegangen, sie fühlt sich nicht wohl. Die Auseinandersetzung heute morgen war zu viel für sie. Davon erzähle ich Karl nichts. Es ist alles geklärt. Alles wird gut. Wir essen zu Abend. Ich bin zu recht gemacht und lausche gebannt seinen Erzählungen. Danach gehen wir ins Schlafzimmer und ich biete mich ihm an. Anders als sonst agiere ich wild und ungestüm. Er schläft ein, ohne nach ihm zu sehen. Für einen kurzen Moment wird mir bewusst, dass ich den Kampf verloren habe. Das letzte was ich sehe, ist der Wolf, der mich zerfleischt. Das Licht geht aus. Dunkelheit.
Sie schleift Anna in die Speisekammer. Danach säubert sie den Boden. Er fängt an zu schreien. Sie geht zu ihm und blickt ihn an. Auf einmal ist er still. Ein Kissen fällt neben ihr zu Boden Ihre Mundwinkel ziehen sich nach oben. In ihrem Schlafzimmer betrachtet sie sich im Spiegel. „Jetzt ist alles gut.“
Als Karl nach Hause kommt, ist er erstaunt. Sie wirkt verändert. Wo Max ist, will er wissen. Der schläft friedlich in seinem Bett. Sie löffeln zusammen die leicht bittere Suppe und unterhalten sich. Halb benommen zieht er sich mit ihr ins Schlafzimmer zurück. Was danach geschieht, bekommt er nur ansatzweise mit. Alles verschwimmt vor seinen Augen und Stimmen flüstern. „Du bekommst, was du verdienst.“ Dann schläft er ein, ohne zu wissen, dass er nicht mehr aufwachen wird.
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