Ein Plädoyer für das Leben

Ich wusste, als ich das letzte Mal sah, dass es Zeit ist, Abschied zu nehmen. Es bedurfte keiner Worte; sie wären ohnehin nicht möglich gewesen – nur ein Gefühl. Es war ein Abschied ohne Worte, still und leise; plötzlich, ohne Vorwarnung.

Damals hatte ich wenig Erfahrung mit dem Thema Abschied nehmen durch eines unwiderruflichen Verlustes; außer die Üblichen – zerbrochene Freundschaften oder Liebesbeziehungen. Der Tod eines nahen Menschen bedeutet ein anderes Abschied nehmen; trotz ähnlicher Gefühle.

Verluste schmerzen immer, doch sie gehören zu unserem Leben dazu; auch wenn sie einem den Boden unter den Füßen wegreißen.

Manche sprechen über ihren Verlust, andere verdrängen ihn und zeigen keinerlei Gefühle. Während andere weinen und schreien, am liebsten beides gleichzeitig, ziehen sich manche in sich selbst zurück. Trauer ist immer individuell; es gibt kein Muss oder Soll.

Oft gibt man sich, dem Leben oder anderen die Schuld; meistens hilft nichts – bis man die Erfahrung macht, wie heilsam es sein kann, darüber zu sprechen.

Sicherlich ist Trauer individuell, Verdrängung verarbeitet sie jedoch leider nicht. Niemand redet gerne über den Tod, über Verlust oder das Abschied nehmen; und doch ist es äußerst wichtig – nicht nur, um den Verlust verarbeiten zu können, sondern auch, um das Leben schätzen „lernen“ zu können.

Ich weiß, es klingt anmaßend aus den Themen „Tod“ und „Abschied nehmen“ etwas Positives ziehen zu wollen. Sollte ich irgendjemanden mit dieser Einstellung verletzen, tut es mir leid! Dies ist nicht meine Absicht. Ich habe selbst viele Abschiede erlebt; endgültige, auf unterschiedliche Weise. Lange habe ich diese verdrängt, mir die Schuld daran gegeben oder nicht über meine Gefühle gesprochen. Geholfen hat mir all dies nicht. Erst als ich meine Gefühle „wirklich“ zuließ und darüber sprach bzw. schrieb, konnte ich die Abschiede verarbeiten und Etwas aus ihnen mitnehmen. Vielleicht hilft dieser Denkansatz auch anderen, erlebte Abschiede anders zu betrachten bzw. sie für eine beginnende Verarbeitung (mir ist bewusst, dass es dafür manchmal auch noch andere Hilfen benötigt und ein Blogeintrag alleine hierfür nicht ausreicht) neu in den Fokus zu nehmen.

Abschiede sind meistens endgültig. Sie zeigen uns, wie vergänglich alles sein kann und auch ist; so wie unser Leben selbst. Vergängliches ist zerbrechlich und wertvoll; unser Leben ist wertvoll. Abschiede auf diese Weise zu betrachten bieten somit die Chance, das Leben mit all seinen Momenten als das zu sehen was es ist: Das wertvollste Gut, was wir alle haben.

Man schätzt sein Leben oft nicht genug. Zu schnell rast die Zeit dahin, zu sehr sind wir in meist vermeintlich wichtige Verpflichtungen, eingespannt. Wir vergessen zu leben, indem wir schöne Momenten, die uns das Leben ausreichend bietet, nicht fühlen, sondern funktionieren lediglich; im Sinne, den alltäglichen „Wahnsinn“ bewältigen zu können. Die Vergänglichkeit wird ausgeblendet, bis sie uns irgendwann packt und wach rüttelt; dass sollte sie auch.

Das Leben ist vergänglich, Momente sind vergänglich und leider auch Beziehungen zu Menschen, die wir lieben. Auch wir sind vergänglich, ein jeder von uns. Ich eingeschlossen, auch wenn ich nicht gerne darüber nachdenke. Abschiede prägen unser Leben und irgendwann werden wir selbst ebenfalls Abschied nehmen müssen; vom Leben und von uns.

Es geht mir nicht darum, dass man sich seine Vergänglichkeit und die des eigenen Lebens ständig vor Augen führt; emotional gesehen täte dies auch nicht sonderlich gut. Vielmehr sollte man sich, bedingt durch die Vergänglichkeit des Lebens, auf das Positive konzentrieren und sein Leben wirklich leben; anstatt nur zu funktionieren.

Unser Leben besteht aus mehr, als aus einem 10 Stunden Arbeitstag, gefolgt von einkaufen, essen und schlafen; sich im ständigen Kreislauf wiederholend. Natürlich benötigen wir alle diese „Basics“, um unser Leben gestalten zu können, aber es ist essentiell wichtig, sich auch für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens Zeit zu nehmen; für das Schöne im Leben, auch wenn es sich manchmal versteckt. Oft hilft es, genauer hinzusehen oder bewusst wahrzunehmen; nichts für selbstverständlich zu halten und dankbar zu sein.

Abschiede zeigen letztendlich, dass wir alle nur „einen Wimpernschlag“ auf dieser Erde verweilen; so kitschig dies auch klingen mag. Doch, wenn man diese kurze Zeit zu schätzen und zu leben weiß, genügt dieser „Wimpernschlag“ uns allen, um zu lernen, was „Glück“ bedeutet.

Ich wollte diesen Beitrag erst „Abschied nehmen“ nennen. Beim Schreiben selbst habe ich mich entschieden, meinen Beitrag den Titel „ein Plädoyer für das Leben“ zu geben. Wir alle sollten „Ja“ zu unserem Leben sagen; egal was es für uns bereit hält – denn, auch wenn es vergänglich ist, haben wir alle die Möglichkeit unser eigenes Glück zu schaffen; dass wir bis zum Ende unserer Tage mit und in uns tragen. In diesem Sinne wünsche ich Euch heute noch alle viele wunderbare Momente, die Euch glücklich machen.

Veröffentlicht von Lene

Ich würde mich als emphatische und entspannte Person bezeichnen, die versucht, ihre Erlebnisse in Wort und Schrift darzustellen. Also alles was mein Herz in irgendeiner Art und Weise berührt, verarbeite ich schriftlich. Ich bin kein Meister der Poesie. Manches mag sich holprig anhören, aber so ist mein Schreibstil. Ich bin auch nicht festgelegt auf eine Art von Text, jedenfalls noch nicht. Ich probiere gerne mal aus, dass merkt man auch an meiner Website: Sie ist recht bunt. Ich denke gerne bunt, denn für mich ist es das Leben auch. Mich freut es einfach, wenn der ein oder andere etwas mit meinen Texten anfangen kann oder sich vielleicht sogar darin wiederfindet. Viel Spaß beim Lesen. Und danke für euren Abstecher in meine kleine, bunten Welt. Vielleicht bis bald. 🤗 Lene

10 Kommentare zu „Ein Plädoyer für das Leben

  1. Dein Text ist wahr, ist differenziert und da ist nichts, dem ich widersprechen kann oder möchte.

    Obgleich ich vieles sehr ähnlich sehe oder zumindest nachvollziehen kann, ist es mir in meinem Leben bisher nicht gelungen, Verlustängste zu besiegen, Verluste wirklich zu verarbeiten und nicht letztlich immer wieder so in die Alltagsmühlen zu geraten, dass anderes Leben wirklich nahezu ganz unmöglich wird. – Ich habe mich diesen Dingen immer wieder gestellt, sie waren Teil der Therapien, des Klinikaufenthalts, die ich hinter mir habe. Ich bin, obwohl mir nichts schwerer fällt, viele Veränderungen eingegangen, wirklich anders geworden ist es nicht.

    Es scheint so zu sein, dass ich letztlich nicht stark genug bin – was ich wenigstens und immer noch versuche ist, mich deshalb nicht (mehr) zu verurteilen, mich dennoch ein bisschen zu mögen.

    Aus Deinen Zeilen spricht, dass Du sehr viel zu verarbeiten, zu bewältigen hattest, dass Deine Sensibilität es Dir insoweit nicht leicht gemacht hat. Dass Du dennoch so „ja“ zum Leben sagen kannst, wie es Dein Text ebenfalls zum Ausdruck bringt, dafür habe ich großen Respekt, denn ich weiß, dass Du dafür hart gearbeitet hast.

    Viele liebe Grüße an Dich! 🌺

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    1. Vielen lieben Dank für deine wunderbaren, offenen Zeilen.
      Danke für das Kompliment. Es hat viel Mühe gemacht und gedauert, aber letztlich bin ich einen Schritt weiter. Alles braucht seine Zeit. Es gibt auch dort kein Soll.

      Du bist genauso stark, denn Du hast ja schon die erste Veränderung verinnerlicht: Dich selbst nicht zu verurteilen; wenn das nicht Stärke ist, dann weiss ich nicht. 😊 Manchmal dauert es eine ganze Weile, bis der Punkt kommt und man die Veränderung spürbar erleben kann. Wie gesagt es gibt kein Soll. Dranbleiben und schon das Sehen, was schon geschafft ist. 😊 Und du hast, wie ich bereits sagte, schon viel geschafft.
      Viele liebe Grüße zurück!

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      1. Dein Zuspruch ist sehr lieb. Ja, mir ist bewusst, dass ich etwas erreicht habe. Aber ich habe viel mehr damit zu tun, das wenigstens zu bewahren, als Kraft aufbringen zu können, noch mehr zu schaffen. So fühlt es sich jedenfalls an, immer und immer wieder.
        Vielleicht muss ich lernen zu akzeptieren, dass eben nicht mehr geht. Aber das ist neben der Konzentration auf das oben angesprochene Bewahren, eine unglaublich schwerer Schritt, so eine Einsicht.
        Dankeschön! Und wieder ganz liebe Grüße an Dich!

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      2. Gerne.
        Vielleicht braucht es manchmal einfach Zeit, bis man wieder den nächsten Schritt gehen kann. Das Erreichte zu halten ist schon ein toller Erfolg. Es braucht Manches viel Zeit, jeder sein Tempo.
        Ganz liebe Grüße an dich!

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  2. Danke für Deinen einfühlsam geschriebenen Beitrag. – Sterben und Abschied, Trauer, Tod und Krisen gehören zu unserem Leben genauso wie Geburt und Werden, Frühling und Zuversicht; es wird nur oft verdrängt… Ich habe es mehrmals erlebt, daß der Tod uns nahestehender Verwandter trotzdem auch etwas Befreiendes hat: trotz aller Zuneigung und Verlust ent-läßt uns dieser Mensch auch aus Bindungen, die sich aus verschiedenen Gründen gebildet haben, in eine neu gewonnene Freiheit. Das kann wohltuend und erleichternd sein. Besonders wenn man es vermag, seine Trauer über den erlebten Verlust zu bewältigen und den Verstorbenen stattdessen mit Gebeten und Vorlesen geistig gehaltvoller Texte auf seinem Weg in die = unser aller geistige Heimat zu begleiten. Man kann auch beginnen, (halblaut) aus den Evangelien vorzulesen = dem Verstorbenen vorzulesen. Das tut beiden Seiten gut und hilft dabei, die eigene Trauer leichter tragen zu können.
    Alles Liebe!

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    1. Danke für deine lieben Worte zu meinem Beitrag.
      Ja, das ist oft so, dass diese Themen „verschwiegen“ werden; eben „tot“ geschwiegen. Sie verschwinden davon aber nicht. Es sind Themen, die zum Leben dazu gehören; als Teil von uns.
      Die Bewältigung, die du beschreibst finde ich toll. Letztlich bleibt der Mensch, der uns verlassen hat, sowieso immer bei uns; nur in anderer Form. Ihn dann mit Ritualen zu begleiten tut beiden Seiten gut.
      Alles Liebe zurück!

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  3. Liebe Madeleine,
    hier ein paar spontane Gedanken, die mir beim Lesen deiner Gedanken kamen:
    Verstorbene verlassen uns nicht; sie gehen uns voraus.
    Und wir tragen sie in unseren Herzen; die Erinnerung bleibt uns.
    Wir können in Gedanken Zwiesprache mit ihnen halten. –
    Jeder Mensch trauert anders.
    Und jede/r hat ein Recht auf seine eigene, individuelle Trauer; auch ein Recht auf Verdrängung (er/sie muss sich nur im Klaren sein, dass Verdrängtes immer irgendwann an die Oberfläche kommt – allerspätestens beim eigenen Tod.
    Und jede/r hat das Recht, so lange zu trauern, wie es für sie/ihn nötig ist (manche trauern Jahre oder ein Leben lang). –
    Den Tod mit offenen Armen und sehenden Auges zu empfangen, ist in unbedingtes Ja zum Leben. –
    Wir tun gut daran, unseren Tod und den unserer Liebsten vorwegzudenken, dann verliert er, der Tod, auch etwas von seinem Schrecken. –
    Das ist nicht kitschig: wir leben weniger noch als einen Wimpernschlag im Vergleich mit der Zeit, die seit dem Urknall vergangen ist und im Vergleich mit der Zeit, die noch vergehen wird, bis das Universum aufhört zu existieren oder in etwas anderem aufgeht.
    Angesichts dieser Dimensionen stünde uns, den Menschen, Demut gut zu Gesichte.
    Und die Demut vor der Größe der „Schöpfung“ und unsere Winzigkeit, um nicht zu sagen Nichtigkeit, würde auch dem Tod seinen größten Schrecken nehmen. –
    Ja, „es ist essentiell wichtig, sich auch für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens Zeit zu nehmen; für das Schöne im Leben, auch wenn es sich manchmal versteckt. Oft hilft es, genauer hinzusehen oder bewusst wahrzunehmen; nichts für selbstverständlich zu halten und dankbar zu sein.“
    Ich lese gerade die Biografie von Zuzana Ruzickova, Lebensfuge, und gerade las ich über ihre Zeit im Ghetto Theresienstadt, immer in der Angst, morgen schon nach Auschwitz-Birkenau transportiert zu werden und täglich hieß es, Abschied zu nehmen von Verwandten, Bekannten, Freunden, Nachbarn. Selbst in einer so aussichtlos erscheinenden Situation, gelingt es, Glück in den kleinsten Dingen, den kleinsten Begegnungen zu finden; sich Glück aus der Erinnerung in die Gegenwart zu holen.
    So soll es sein, viele wunderbare glückliche Momente.
    Liebe Grüße, Bernd (-:

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    1. Lieber Bernd
      Danke für deine schönen Worte.
      Genau, letztlich ist es so, dass sie in uns weiterleben und dann irgendwann mit uns gehen; letztlich wir und auch die anderen in Menschen, die uns lieben / geliebt haben, weiterleben. Vergessen wird man nicht.

      Ja, Trauer ist sehr individuell. Das darf sie auch. Aber Verdrängung kann auch, wenn es zwei Menschen betrifft die einen Verlust erleben, zu Distanz führen; wenn man nicht darüber redet. Aber so ist es mit allen Dingen, die man nicht ausspricht, die aber „dazwischen“ liegen. Manchmal braucht es aber auch die Zeit, sich öffnen zu können. Manche schaffen es nie. Alles geht, nichts muss. Man verpasst dann nur Gelegenheiten und Chancen; aber, dass ist nur meine Meinung. Die muss nicht „wahr“ sein.

      Demut und Dankbarkeit sind wichtige Eigenschaften, die uns das Leben schätzen lassen.

      Ich wünsche dir heute wunderbare Momente. Liebe Grüße, Madeleine

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  4. Wie bemerkenswert, welch siebten Sinn Du doch hast, ausgerechnet an diesem 29. Dezember für das Leben zu plädieren, das den Tod miteinschließt! Ich hatte gestern nämlich tatsächlich selbst Geburtstag. ( Aus bekannten Gründen nicht so dolle gewesen.) Und just an meinem achten Geburtstag verstarb meine liebe Oma, mit der ich aufgewachsen bin, da mein Elternhaus zugleich auch mein Großelternhaus war/ist. Ich hielt das lange für keinen Zufall, geheimnisste da irgendetwas hinein, maß dem eine große, wenn auch unbestimmbare Bedeutung zu. Auch heute noch finde ich es zumindest recht seltsam, wenn ich daran denke. Viele Jahre später starb dann überraschend mein Vater zwölf Tage vor meinem Geburtstag. Scheinbar habe ich ich mit diesem Datum irgendwie die Arschkarte gezogen in meiner Familie. Auch wenn die 29 und die Zwölf doch eigentlich die schönsten Zahlen sind auf der Welt (da kommt nicht einmal die 512 mit, und das ist immerhin 2 hoch 9 … :-)) Auf jeden Fall werde ich damit alle Jahre wieder aufs Neue mit der eigenen Vergänglichkeit konfrontiert. Wenn man so will, auch nicht die schlechteste Vorbereitung auf das Leben …
    Lieben Dank Dir, Madeleine, fürs Anreißen, und hab nun nen rührig-lebendigen Tag am Rhein, der El

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    1. Hi, danke für deine Zeilen und dein Kompliment.
      Erst einmal alles Gute nachträglich! In diesen Zeiten sind die Geburtstage alles nicht so wie sonst. Eben anders; so wie alles ist.

      Danke für deine offenen Worte zu diesem Thema. Ich habe eine ähnliche „Kombination“, die mich immer wieder konfrontiert. Kann dies also gut nachvollziehen.
      Alles Liebe dir und komm gut ins neue Jahr!

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