„Liest du mir gleich etwas vor?“ „Das geht leider nicht mein Schatz, ich muss noch arbeiten.“ „Aber ohne eine Gute Nacht Geschichte kann ich nicht schlafen.“ „Nimm dir doch die Einhorn Toni Figur.“ „Bitte Papa.“ „Marieke, ich hab jetzt echt keinen Kopf dafür.“ „Ok.“ Sie nimmt ihren Teddybären, rutscht vom Stuhl und schleicht mit hängenden Kopf aus dem Esszimmer. „Es tut mir leid, es war nicht so gemeint. Das nächste Mal klappt es bestimmt. Jetzt putz dir bitte die Zähne und geh ins Bett. Ich schau später noch mal vorbei.“
Marieke umklammert ihren Teddybären. Sie ist traurig. „Papa hat nie Zeit. Nicht mal für eine Gute Nacht Geschichte. Ständig arbeitet er oder bringt mich zu Oma. Mama fehlt mir so sehr.“
Sie erinnert sich daran, wie sie sich abends, beim Zubettgehen, in ihre Arme gekuschelt hat. Sie hatte ihr immer über den Kopf gestreichelt, bevor sie ein Einschlaflied für sie summte und ihr die Geschichte vom Mann im Mond vorlas.
Der Mann im Mond, Marieke blickt aus dem Fenster in die helle Nacht.
„Wo Mama wohl ist? Papa redet darüber mit mir nicht. Oma hat erzählt, dass sie nun ein Engel ist und im Himmel wandert. Ich hoffe, dass die Wolken weich sind und sie gut tragen.“
Als sie ihre Mama das letzte Mal gesehen hatte, roch sie fremd und sah ganz anders aus. Dünn und blass. Ihre Punkte im Gesicht, die immer so lustig hin und her wippten, wenn sie lachte, waren verschwunden. Doch als sie in ihre Augen blickte, erkannte Marieke sie. Damals hatte ihre Mama etwas zu ihr gesagt, was sie nicht verstand. „Vergiss nicht, dass ich dich liebe und immer bei dir bin. Wenn du dich einsam fühlst oder traurig bist, weil du mich vermisst, dann schau zum Mond. Dort sitze ich und wache über dich. Jede Nacht.“
Ein paar Tage später hörte sie ihren Papa nachts weinen. Oma kam von da an jeden Tag und kümmerte sich um sie. Sie machte ihr Frühstück, brachte sie in den Kindergarten und spielte mit ihr. Sie erklärte ihr, dass Mama nicht wiederkommen würde, weil sie ihre Zeit auf Erden aufgebraucht hätte. Marieke konnte mit dieser Erklärung nichts anfangen. Wie war das gemeint? Hat jeder von Geburt an eine Uhr, die irgendwann einfach abläuft oder stehen bleibt? Sie suchte tagelang an ihrem Körper nach einer Uhr, konnte aber keine finden. Sie hatte Oma wohl falsch verstanden. Doch was war dann mit Mama passiert, fragte Marieke sich.
Eines Tages ging ihr Papa in einem schwarzen Anzug aus dem Haus, während sie im Garten saß und mit ihren Puppen Tee trank.
„Oma, warum hat Papa heute einen schwarzen Anzug an?“ „Heute ist ein Tag für Schwarz, weil man einen besonderen Menschen verabschiedet.“ „Aber warum trägt man dann schwarz? Schwarz macht mir Angst. Es erinnert mich an die Nacht. An Monster unter meinem Bett, die flüstern und nach meinen nackten Füßen greifen wollen. Mama hat sie immer vertrieben. Mit Schokokeksen. Sie hat immer gesagt, dass Monster lieber Plätzchen Essen anstatt Füße kleiner Mädchen.“ „Ja, so war sie.“ Ihre Augen glitzerten und sie wandte sich ab. „Alles in Ordnung Oma?“ „Natürlich mein Schatz, ich hatte etwas im Auge.“ „Also, warum schwarz? Wenn man einen Menschen besonders mag, könnte man doch seine Lieblingsfarbe tragen. Mama mochte zum Beispiel Lila. Deshalb tragen meine Puppen heute lila Hüte. Meinst du Mama würde sich darüber freuen?“ „Sicherlich.“ „So sehr, dass sie zurückkommt?“ „Nein mein Schatz, leider nicht.“ „Warum nicht?“ „Sie kann nicht zurückkommen, weil sie ein Engel ist, der im Himmel auf Wolken wandert. Engel können auf der Erde, auf der wir leben, nicht atmen.“ „Hmm, aber sie könnte es doch wieder lernen.“ „Sie würde hier nicht atmen können, auch wenn sie es versucht. Sie ist nun eine Seele, Energie im Himmel.“ „Eben hast du gesagt, sie ist ein Engel.“ „Sie ist beides. Energie, die sich aus der Seele zum Engel formt.“ „Wie sieht Energie denn aus?“ „Das ist schwer zu erklären. Wir alle sind Energie. Kleine Teile aus Atomen. Aber das erkläre ich dir, wenn du größer bist. Merk dir nur, dass deine Mama immer bei dir ist. Sie schaut vom Himmel aus zu und beschützt dich, solange du auf Erden bist.“ Marieke nickte, doch war anderer Meinung. Ihre Mama hatte einmal zu ihr gesagt, dass sie immer bei ihr bleiben würde, um die Monster unter ihrem Bett mit Schokokeksen zu vertreiben und ihr die Geschichte vom Mann im Mond vorzulesen. Sie hatte noch nie ein Versprechen gebrochen. Marieke widmete sich wieder ihren Puppen zu und goss ihnen Tee nach. In diesem dem Moment fiel ein Sonnenstrahl auf den Tisch und ein lila Schmetterling landete auf ihrem Handrücken. Sie lachte. „Mama, ich wusste es. Bald bist du wieder bei mir.“
Die Tage vergingen, doch Mama kam nicht zurück. Sie vermisste sie schrecklich. An manchen Tagen war es so schlimm, dass ihre Augen plötzlich nass wurden und sie weinen musste. Ihre Oma hatte ihr erklärt, dass das Trauer ist, die man fühlt, wenn man einen Menschen, den man gern hat, verliert.
Marieke möchte nicht mehr traurig sein. Es fühlt sich nicht schön an. Trauer ist blöd. Sie sehnt sich nach den Tagen am See, an dem sie mit ihren Eltern zusammen gepicknickt und gelacht hatte. Wenn sie diese Lachen nur zurück holen könnte, dann wäre alles wieder gut.
Sie kuschelt sich in ihre Decke und summt die ihr bekannte Nachtmelodie. Dann hat Marieke eine Idee. Sie denkt an den Mann im Mond. Er wandert nachts am Himmel auf und ab, um die Sterne anzupusten, damit sie in der Dunkelheit für die Menschen funkeln. Immer wenn sie von ihren Fenstern aus zu ihm blicken, gibt er sich besonders Mühe, die Nacht für sie zu erhellen. An klaren Tagen gelingt es ihm gut und die Sterne leuchten hell. An anderen Tagen erstrahlt er selbst in voller Pracht und flüstert den Menschen im Schlaf Ruhe zu. Ganz selten erfüllt er Menschen, die sich besonders stark nach etwas sehnen, einen Wunsch. Er wählt einen Stern aus und schickt ihn mit dem Wunsch vom Himmel zur Erde. Marieke blickt aus dem Fesnter. „Ich wünsche mir meine Mama wieder zurück.“ Sie schließt die Augen, legt ihre Hände ineinander und wiederholt flüsternd ihre Bitte. Als sie die Augen wieder öffnet, sieht sie eine Sternschnuppe vom Himmel fliegen. Sie landet nahe dem See, an dem sie mit ihren Eltern oft gewesen ist. „Dort wartet Mama auf mich.“ Freudig springt sie vom Bett auf, nimmt ihren Teddybären und klettert aus dem Fenster. Sie möchte ihren Papa überraschen.
Roman sitzt vor seiner Präsentation. Er blickt auf die Uhr. Es ist bereits kurz vor Mitternacht. Er seufzt. Wieder hat er Marieke enttäuscht. Anstatt ihr eine Gute Nacht Geschichte vorzulesen, hat er sich in seine Arbeit vertieft, um sich von seinem Schmerz abzulenken. Was würde Elke dazu sagen? Er sieht ihr Gesicht vor sich, ihre lachenden Sommersprossen und ihr Leuchten in ihren Augen. Er weint, überwältigt vom Schmerz, den er endlich zulässt. Darüber schläft er ein.
„Roman, sei nicht zu hart zu dir. Du bist ein guter Vater. Du hast dich nur in deinem Schmerz verlaufen und vergessen, was das Wichtigste in deinem Leben ist; Marieke. Sie ist die Essenz unserer Liebe. Du hast mir versprochen, gut auf sie aufzupassen, weil ich es nicht mehr kann. Bitte lass mich los und lebe weiter. Für unsere Tochter. Ich warte hier auf dich. Wir sehen uns wieder.“ Er wird wach und begreift, dass er geträumt hat. Lächelnd blickt er auf das erste selbst gemalte Bild von Marieke, dass eingerahmt auf seinem Schreibtisch steht. „Du hast Recht Elke. Danke, dass du mich an das Beste in meinem Leben erinnerst.“
Leise öffnet er die Tür des Kinderzimmers. Es brennt Licht, doch das Bett ist unberührt. Trotz intensiver Suche findet er sie nicht. Er gerät in Panik und greift zum Handy, um die Polizei anzurufen. Mit dem Telefon in der Hand bleibt vor dem Fenster stehen und erblickt den Vollmond, der hell aufleuchtet. „Der Mann im Mond.“ Elke hatte Marieke das Märchen jeden Abend vorgelesen. Er versucht sich an den Inhalt der Erzählung zu erinnern. Ein Wunsch wird erfüllt, wenn eine Sternschnuppe vom Himmel fällt. Roman weiß, was sie sich wünscht. Er hat denselben Wunsch. Doch wo könnte die Sternschnuppe hingefallen sein? Das Bild, das auf ihrem Nachttisch steht, zeigt sie bei einem ihrer Ausflüge am See. Sie sind oft zu diesem Ort gefahren und hatten dort glückliche Stunden verbracht. Roman schluckt, als er diese Erinnerungen fühlt. „Dort muss sie sein.“
„Marieke, Papa ist hier. Wo bist du?“ Durch die Büsche hindurch erblickt er eine kleine Gestalt, die am Boden sitzt und weint. „Da bist du ja mein Schatz, Gott sei Dank.“ Er geht zu ihr und setzte sich neben sie. Erleichtert schließt er sie in die Arme Dann weinen beide zusammen. Nach einige Momenten schluchzt es aus ihr heraus. „Das Märchen stimmt nicht Papa. Den Mann im Mond gibt es gar nicht. Ich habe eine Sternschnuppe gesehen und mir gewünscht, dass Mama wiederkommt. Sie ist zum See gefallen. Das weiß ich bestimmt. Deshalb bin ich hierhin gelaufen und habe auf Mama gewartet. Doch sie ist nicht gekommen.“
Marieke umklammert ihren Teddybären und sieht ihn mit tränenverhangenden Augen an. Roman wird bewusst, dass er nicht mehr schweigen kann. Er muss ihr die Wahrheit sagen, sich öffnen und den Schmerz mit ihr teilen, damit sie ihn beide zusammen überwinden können. „Mein Schatz, Mama ist gestorben. Sie kommt nicht zurück.“ „Was bedeutet das?“ „Du kennst doch die Bilder, auf denen du ein Baby bist?“ Marieke nickt „Nun, wir alle werden geboren, größer und älter. Die Zeit vergeht. Wir wachsen, verändern uns, machen Erfahrungen. Wir gehen in den Kindergarten, in die Schule, lernen, um später etwas machen zu können, was uns Spaß macht und mit dem wir Geld verdienen können. Und mit viel Glück treffen wir einen Menschen den wir sehr gerne haben und mit dem wir eine Familie gründen wollen. Alles beginnt von vorne. Ein Kind wird geboren, es wird größer, wächst und macht eigene Erfahrungen. Das nennt man Leben. Zum Leben gehört, dass wir älter werden. Älter werden heißt, dass mit der Zeit unser Körper schwächer wird. Irgendwann ist er einfach zu alt für das Leben und stirbt.“ „Aber Mama war doch gar nicht alt.“ „Nein Marieke, das war sie nicht. Doch leider wird unser Körper manchmal krank und trotz Behandlungen von Ärzten nicht mehr gesund. Wenn wir krank werden, kann es passieren, dass das Alter keine Rolle spielt und wir dennoch sterben, weil unser Körper zu schwach ist, um weiterzuleben. Das ist mit Mama passiert. Sie hat sehr gekämpft, glaub mir mein Schatz. Leider war die Krankheit stärker als sie.“ Beide schwiegen.
„Deswegen sah Mama auch immer so müde aus, als wir sie besucht haben.“„Ja.“ „Hat ihr das krank sein weh getan?“ „Ab und an sicherlich. Doch dann hat sie an uns gedacht. Vor allem an dich. Sie wollte gesund werden. Für uns. Für dich. Sie hat dich sehr geliebt, das weißt du oder? Sie hötte dich niemals freiwillig verlassen.“ Über Mariekes Gesicht huscht ein keines Lächeln. „Weißt du was ich ihr versprechen musste?“ Sie blickt ihn mit großen Augen an. „Auf dich aufzupassen, weil sie es nicht mehr kann. Ich gebe zu, dass es mir das in letzter Zeit nicht gut gelungen ist. Ich war zu sehr mit meinem Schmerz beschäftigt. Das tut mir leid.“ „Das ist ok Papa. Das ist Trauer, weil man jemanden vermisst, den man gerne hat.“ Beide umarmen sich.
Hand in Hand gehen sie zum Auto. Auf der Fahrt nach Hause leuchtet der Mond. Roman fühlt, dass Elke glücklich ist, weil sie sich wieder gefunden haben.

🙏💛💐
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Gut, dass ich gerade hier allein bin …
Danke & Grüße, Reiner
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Wie wunderschön, ergreifend und tröstlich❣️🌝💫
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Dankeschön Mary. 🫶
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😥nichts für mich
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Manches gefällt jenem einfach nicht oder spricht einen nicht an. ☺️
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Ich meinte nur, weil es auch so traurig ist..
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