Vergänglichkeit

Brigitte blickt in den Spiegel. Sie ist 56 Jahre alt, ihr Gesicht und ihr Hals sind faltenfrei. Ihre Haare färbt sie seit ihrem ersten grauen Haar. Sie ernährt sich gesund, treibt intensiv Sport und gibt ihr Geld für teure Schönheitsbehandlungen aus. Fast schon panisch versucht sie die Zeichen der Zeit aufzuhalten. Sie hat Angst vor der Endlichkeit. Vor dem Vergehen. Vor dem Tod, der sie verschwinden lässt, als ob sie nie da gewesen sei.

„Ich verlasse dich“, sagt Horst an diesem Morgen zu ihr. „Alles dreht sich nur noch um die Angst vor dem Älter werden. In deinem Leben ist für nichts anderes mehr Platz. Doch ich möchte mein Leben genießen und die Zeit nutzen, die mir noch bleibt. Gutes Essen genießen, an faulen Tage entspannen und in ferne Länder reisen, um Momente zu sammeln, an die ich mich am Ende meiner Tage erinnere. Mit Inge kann ich das. Sie ist zwar 10 Jahre älter, doch lebt ihr Leben. Sie pfeift auf graue Haaren und ihre Falten, ist aber voller Lebensfreude und Wärme. Brigitte, du hältst an der Zeit fest, dabei hält sie dich fest. Leben und Veränderungen lassen sich nicht aufhalten. Man kann beides nur akzeptieren und das Beste daraus machen. Zeit ist für mich eine Verbündete, kein Gegner, den ich bekämpfen muss. Ich wünsche dir, dass du das irgendwann erkennst und in dir den Menschen wiederfindest, der voller Freude und Liebe gewesen ist.“

Ihr Blick wandert zu ihren Augen. Sie sind leer und ausdruckslos. Unweigerlich fragt sie sich, wer sie wirklich ist. Die jugendlich aussehende 56-jährige? Eine Zahl? Ein Alter? Ihre Falten und ihre grauen Haare, die sie fürchtet, weil sie Angst hat das wilde Mädchen von einst zu verlieren?

Brigitte wird bewusst, dass Horst Recht hat. Sie hat sich in ihrer Angst verlaufen und sich dabei selbst verloren. Ihr Kampf mit der Zeit war umsonst gewesen.

All die Momente Leben, die sie mit ihrem Kampf verbracht hatte, hatte sie verpasst. Augenblicke, in denen sie sich von Horst und sich selbst entfremdet hatte. Sie hätte wilde Dinge tun können, träumen können, erschaffen können, allein oder gemeinsam mit ihm. Stattdessen war sie eine Gefangene ihrer Angst gewesen und hatte die Zeit, die ihr geschenkt worden war, nicht genügend genutzt.

Sie kehrt dem Spiegel den Rücken zu. Er ist nicht mehr wichtig. Brigitte hat verstanden, dass sie weder eine Zahl noch ein Alter ist. Auch ihre Falten und graue Haare machen sie nicht aus. Tief in ihrem Inneren ist sie noch immer das wilde Mädchen von damals und wird es immer bleiben. Und dieses Mädchen will leben, träumen und die Zeit nutzen, die ihr noch bleibt. Voller Lebensfreude und Liebe, die noch in anderen nachhallt, wenn sie schon längst verschwunden ist.


Das Leben vergeht

der Herbst greift nach dem Sommer

und erstes Laub fällt.

Veröffentlicht von Lene

Ich würde mich als emphatische und entspannte Person bezeichnen, die versucht, ihre Erlebnisse in Wort und Schrift darzustellen. Also alles was mein Herz in irgendeiner Art und Weise berührt, verarbeite ich schriftlich. Ich bin kein Meister der Poesie. Manches mag sich holprig anhören, aber so ist mein Schreibstil. Ich bin auch nicht festgelegt auf eine Art von Text, jedenfalls noch nicht. Ich probiere gerne mal aus, dass merkt man auch an meiner Website: Sie ist recht bunt. Ich denke gerne bunt, denn für mich ist es das Leben auch. Mich freut es einfach, wenn der ein oder andere etwas mit meinen Texten anfangen kann oder sich vielleicht sogar darin wiederfindet. Viel Spaß beim Lesen. Und danke für euren Abstecher in meine kleine, bunten Welt. Vielleicht bis bald. 🤗 Lene

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