Der Brief

Die Handschrift auf dem Umschlag kam ihr bekannt vor. Zitternd öffnete sie den Brief und begann zu lesen.

„Mein Herz“ (…), Anne rang nach Luft. Erinnerungen wurden in ihr ausgelöst. Es hatte nur einen Menschen gegeben, der sie so genannt hatte; Helmut. 

Sie lernte ihn mit 19 Jahren auf einer Tanzgesellschaft kennen, die sie mit ihren Eltern besuchte. Anne sollte einen geeigneten Mann finden und heiraten. In einem unbeobachteten Moment stahl sie sich ihrer Mutter, die ihr alle 10 Minuten einen anderen Bewerber vorstellte, davon. Sie streifte gelangweilt umher und schaute sich um.Wie sollte sie hier einen Mann zum Heiraten finden? Keiner der Anwesenden kam auch nur ansatzweise in Frage. Anne träumte vor sich hin. Groß müsste er sein, stattlich gebaut, mit dunklem lockigen Haar und blauen Augen. Versunken in ihren Vorstellungen wog sie sich hin und her. Dabei kicherte sie. Als ob sie hier auf solch einen Mann treffen würde. In diesem Momente stieß sie gegen die Person neben sich. „Verzeihen Sie“, entfuhr es ihr, dann blickte sie in seine Augen. Ihr Herz überschlug sich. Da stand er, der Mann ihrer Träume. „Guten Abend die Dame. Es sei ihnen vergeben. Ich denke, dass ich es aushalte, wenn eine zarte Person wie sie meinen Arm streift. Nun sind sie mir aber etwas schuldig. Darf ich fragen, wie sie heißen? Mein Name ist Helmut.“ „Mein Herz (…).“ „Wie bitte?“ „Vergessen sie, was ich gesagt habe. Ich scheine heute nicht ganz bei der Sache zu sein. Entschuldigen sie mich bitte.“ Abrupt drehte sie sich um und ging zu ihren Eltern zurück. Sie setzte sich an ihren Tisch und dachte an Helmut. Anstatt sich ihm vorzustellen, hatte sie sich wie ein kleines Kind benommen und war davongelaufen. Bei dem Eindruck, den sie hinterlassen hatte, würde er sie sicherlich kein zweites Mal ansprechen. Sie beschloss, ihn zu vergessen und den weiteren Abend über sich ergehen zu lassen. Ihre Mutter riss sie aus ihren Gedanken. „Hast du jemanden entdeckt, der dir gefällt? Es kann doch nicht sein, dass keiner der Männer für dich in Frage kommt. Wie wäre es mit dem?“ Anne folgte dem Blick ihrer Mutter und sah Helmut. Zielstrebig steuerte er auf sie zu. Hatte er sich gesucht? Ihr Herz begann zu pochen. 

„Hier sind sie. Endlich habe ich sie gefunden. Darf ich sie zum Tanz bitten?“ Bevor Anne antworten konnte, nickte ihre Mutter erfreut. „Natürlich. Nun geh schon Kind, der junge Herr wartet nicht ewig auf dich.“ Sie stand auf, hakte sich bei Helmut unter und schritt mit ihm zur Tanzfläche.

Nach ein paar Minuten eröffnete er das Gespräch. „Ich fand ihre Tanzeinlage ganz zauberhaft. Sie wirken so lebendig auf mich. Ganz anders als die übrigen Damen, die stocksteif am Tisch sitzen und darauf warten, dass ein Mann sie zum tanzen auffordert. Ich finde das äußerst erfrischend und attraktiv.“ Anne errötete und senkte ihren Blick. „Habe ich sie durch meine Worte verschreckt?“ „Nein, es ist nur (…).“ „Ich verstehe. Lassen sie uns einfach Tanzen.“ Sie nickte, schmiegte sich an ihn und schloss die Augen. Der Abend verging wie im Flug. Bei der Verabschiedung lud ihre Mutter Helmut zum Tee ein.

Am nächsten Tag erschien er im Offiziersanzug zur Verabredung. „Sie sind bei der Marine?“ Anne wusste, dass er damit bei ihrer Mutter gepunktet hatte. Ruhm und Ansehen waren wichtig für sie. „Ja. Gestern war ich als Privatperson unterwegs. Wissen sie, ich trenne das gerne. Aktuell bin ich in unserem Ausbildungslager stationiert, um Truppen für anstehende Einsätze zu schulen. Doch nun genug von meinem Offiziersleben. Für sie mag es spannend sein, für mich ist es Alltag.“ Er blickte zu Anne. „Hätten sie etwas dagegen, wenn ich ihre Tochter zum Spaziergang ausführen?“ „Machen sie, machen sie. Die jungen Leute sind doch am liebsten unter sich.“ 

Sie spazierten im nahe gelegenen Park. Die Sonne schien und Blumenduft hing in der Luft. Es roch nach Aufbruch, der Sommer war nah. Anne atmete tief ein und aus. Sie war glücklich. „Da ist es wieder, das bezaubernde Lächeln von Gestern Abend.“ Er blickte tief in ihre Augen. „Anne, ich möchte ihnen etwas über mich erzählen. Früher war ich ein sorgloser Mensch, der im Moment gelebt hat und voller Freude war. Eigentlich wollte ich Maler werden, doch um meine Mutter stolz zu machen, habe ich eine Karriere bei der Marine eingeschlagen. Ihre Lebendigkeit und ihr Frohsinn haben mich daran erinnert, wie ich früher war. Mir ist bewusst geworden, wie sehr mir Unbeschwertheit im Leben fehlt; den Moment auszukosten, ohne ständig an meine Verantwortung für unsere Truppen denken zu müssen. Ich würde gerne mit ihnen diese Augenblicke erleben, weil ich mich zu ihnen hingezogen fühle. Würden sie mir den Gefallen tun und ein wenig Zeit mit mir verbringen?“ Anne strahlte und nickte. Ihr Herz überschlug sich vor Glück. Sie hatte gehofft, dass er ebenso fühlte wie sie. Arm in Arm setzten sie ihren Spaziergang fort. 

Anne und Helmut verbrachten wunderbare Sommertage. Bei langen Spaziergängen philosophierten sie über das Leben und vertrauten sich ihre Wünsche an. „Dürfte ich ich mich heute noch mal entscheiden, würde ich meinem Herzen folgen und Maler werden.“ „Das kann ich nachvollziehen. Ich hätte gerne eine Wahl. Wissen sie Helmut, meine Eltern reden immer nur vom Heiraten und Kinder bekommen. Mehr gibt es für sie nicht.“ „Und das wollen sie nicht?“ „Doch, aber irgendwann. Zuerst möchte ich einmal leben. Abseits der Konventionen, die mir als Frau auferlegt werden. Frei und unbeschwert. Am liebsten in einem Haus am Meer.“ „Das klingt wunderbar. Ich kann sie in diesem Haus sehen. Wie sie dort leben, nach ihren eigenen Vorstellungen; wie sie unbekleidet im Meer schwimmen, um das Leben auf der Haut zu spüren.“ Anne lachte. „Meine Eltern wären über diesen Anblick alles andere als erfreut.“ „Wissen sie, wenn ich eins gelernt habe, dann, dass unser Leben zu kostbar ist, um es zu verschwenden. Wir leben nur einmal und sollten die Dinge tun, die uns glücklich machen.“ Zärtlich blickte Anne ihn an. Zum allerersten Mal fühlte sie sich verstanden. 

Mit der Zeit wuchs ihre Verbindung und sie wurden immer vertrauter miteinander. Bald duzten sie sich und Helmut fragte sie, ob er sie malen dürfte. Sie nutzten das Ateliers eine Freundes von ihm. Als sie ihr Portrait das erste Mal sah, war sie überwältigt. „Es ist wunderbar.“ „Gefällt es dir wirklich?“ „Ja. Es ist so lebendig und ausdrucksstark. Du bist ein wahrer Künstler.“ „Das Kunstwerk bist du. Danke, dass ich dich malen durfte. “ Beide lächelten sich an. In diesem Moment wurde ihnen bewusst, dass sie die Liebe gefunden hatten. Sie sprachen es aus. Erst leise, dann ganz laut. Es war ihr erstes Ich liebe dich, das sie mit einem Kuss besiegelten. Von da an träumten sie von einem gemeinsamen Leben am Meer. 

Ihre Mutter zeigte sich wenig begeistert von ihren Plänen. „Ein Haus am Meer, das ist doch lächerlich. Und er will Bilder malen? Du willst doch die Frau eines ehrbaren Mannes werden, Kinder bekommen und ein abgesichertes Leben führen oder nicht? Wie soll das mit einem Mann gehen, der einer brotlosen Kunst nachgeht?“ „Ja, Mutter natürlich.“ Anne spürte, wie Zweifel in ihr aufkamen. Dennoch wollte sie ihren Traum nicht aufgeben und hielt an ihrem Haus am Meer mit Helmut fest. 

Der Sommer verging und mit ihm die Leichtigkeit, die sie anfangs verspürt hatte. Ihre Zweifel begannen sich auszubreiten. „Was bedrückt dich mein Herz?“ „Bitte versteh mich nicht falsch, ich genieße jeden Augenblick mit dir, doch wie soll es mit uns weitergehen? Unsere Pläne sind schwer umzusetzen. Bald ist dein Auftrag erledigt und du wirst zurück beordert werden. Unser Haus am Meer wird in weite Ferne rücken und schließlich verblassen, so wie wir.“ „Ich kann deine Bedenken verstehen, doch ich habe nachgedacht und mich entschieden. Die Marine bedeutet mir nichts mehr. Du bedeutest mir etwas. Ich werde meinen Dienst quittieren.“ „Ist das möglich?“ „Ja.“ „Du willst deine Karriere für mich aufgeben? Was ist, wenn du deine Entscheidung später bereust und dir das Haus am Meer doch nicht genügt? Niemand wird dich bejubeln und du wirst auch keine Orden bekommen. Kannst du dennoch restlos glücklich sein? Nur mit mit und einem einfachen Leben, abseits von deinen einstigen Erfolgsgeschichten?“ „Die Orden haben mich nicht glücklich gemacht. Du machst mich glücklich, weil du mich daran erinnerst, was im Leben wirklich wichtig ist; den Momenten zu folgen, in denen das Herz spricht. Noch nie hat meins so laut gesprochen wie jetzt. Es schlägt Ja. Was sagt dein Herz?“ „Es sagt ja und das wird es immer tun.“ „Du machst mich überglücklich. Morgen werde ich abreisen und bei meinem Vorgesetzten vorsprechen.“ Sie umarmten sich und schworen sich ewige Treue.

Anne wartete sehnsuchtsvoll auf Nachricht von Helmut. Die Wochen vergingen ohne ein Lebenszeichen von ihm. Mittlerweile war es Winter. Sie war sich sicher, dass er nicht mehr zurückkehren würde und verfiel in große Trauer. Sie zog sich in ihr Zimmer zurück und sprach mit niemandem. Stundenlang dachte sie über die Gründe seines Fernbleibens nach. Hatte sie sich so sehr in ihn getäuscht? Konnte sie ihren Gefühlen nicht trauen? Warum sollte er sie zurücklassen, ohne ein Wort der Erklärung? Irgendetwas stimmte nicht. Er hatte ihr ewige Treue geschworen und beim Abschied zu ihr gesagt, dass er ohne sein Herz nicht leben könne. Was war nur geschehen?

Der Frühling brach an, doch Anne war weiter untröstlich. Eines morgens klopfte es an ihre Tür. „Jetzt nicht Mutter.“ „Ich bin es, Isabell. Darf ich reinkommen?“ „In Ordnung.“ Ihre beste Freundin trat ein und setzte sich zu ihr ans Bett. „Es ist so schönes Wetter und du liegst hier im Dunkeln. Anne, es wird Zeit, dass du wieder zu leben anfängst.“ „Warum, wenn ich alles verloren habe?“ „Das weißt du doch gar nicht.“ „Wie meinst du das?“ „Wäre Helmut der Richtige für dich gewesen, hätte er dich nicht sitzen lassen oder nicht? Glaub mir, es ist besser so. Lieber ein Schrecken mit Ende, als ein Schrecken ohne Ende. Nun hör auf zu trauern, wasch dich und zieh dir etwas an. Glaub mir, danach wird es dir besser gehen. In der Zwischenzeit werde ich die Vorhänge öffnen und etwas frische Luft hineinlassen.“

Ihre Mutter begrüßte sie freudig im Esszimmer, in dem sie mit ihrer Freundin Kaffee trank. „Ich bin so froh, dass es dir wieder besser geht. Nun, da du wieder unter den Lebenden weilst, könnten wir heute Abend doch auch zum Frühlingsball gehen. Es werden viele Junggesellen anwesend sein.“ „Mutter, mir ist nicht danach jemanden kennenzulernen.“ „Gut, gut. Aber ein bisschen Ablenkung würde dir gut tun.“ Ja, das sehe ich auch so. Anne, wann warst du das letzte Mal außer Haus?“, fragte Isabell. Sie überlegte. „Siehst du, es ist viel zu lange her. Lass uns heute Abend Tanzen gehen. Das wird dich auf andere Gedanken bringen.“ Anne spürte, dass ihr Nein nicht akzeptiert werden würde und nickte ergeben. 

Auf dem Ball gab sich Anne Mühe, ihre Mutter und Isabell zufriedenzustellen. Sie lachte an den richtigen Stellen, nickte bestätigend, wenn sie es musste und antwortete, wenn sie gefragt wurde. Irgendwann wurde Isabell zum Tanzen aufgefordert. Anne lehnte dankend ab. Sie schwebte gedanklich mit Helmut über das Parkett.

„Schau Kind, da kommt ein Geschäftspartner deines Vaters. Er ist äußerst erfolgreich und wohlhabend. Ich hatte gehofft, ihn hier zu treffen. Warte ich werde ihn dir vorstellen.“ Sie eilte davon und holte sie ihn an den Tisch. „Herr vandewind, dass ist unsere Tochter, Anne.“ Augenzwinkernd ließ ihre Mutter beide alleine. Anne seufzte. Sie fühlte sich nicht dazu bereit, einen neuen Mann in ihr Leben zu lassen und hatte kein Interesse an einem Gespräch mit ihn. Zu groß war die Lücke, die Helmut hinterlassen hatte. Herr vandewind würde sie niemals schließen können. Das spürte sie sofort. Da sie nicht unhöflich sein wollte, blieb sie am Tisch sitzen. „Guten Abend Anne. Ihr Vater hat mir viel von ihnen erzählt.“ „Ah so, hat er das?“ „Ich verstehe schon, als ein Herr mittleren Alters bin ich eher uninteressant für sie. Noch dazu, wo sie so kurz vorher bitter enttäuscht worden sind.“ „Wie meinen sie das?“, hakte sie entrüstet nach. „Nun ihr Vater hat mit von ihrer Liaison mit diesem Helmut erzählt. Ich muss gestehen, dass mir solche Geschichten nicht neu sind. Ein junger, wilder Mann, stattlicher Natur, der das Herz einer jungen Dame im Sturm erobert. Er holt ihr die Sterne vom Himmel, am Anfang ist alles rosarot, doch dann platzen die Seifenblasen und nichts bleibt mehr übrig von den großen Träumen.“ Anne schwieg und überlegte. War sie Helmut auf dem Leim gegangen, weil sie an das Märchen vom Haus am Meer, das in den Wellen ruht, weil es mit den Gezeiten der Liebe gebaut ist, hatte glauben wollen? „Ihrem Schweigen entnehme ich, dass ich ins Schwarze getroffen haben. Hören Sie, ich mag weder wild noch jung sein, doch ich weiß, was ich will. Ich kann ihnen Sicherheit bieten und ein Herz, das nicht wankelmütig ist, weil es verlässlich liebt. Wenn sie mir die Gelegenheit geben, ihnen zu beweisen, dass ich der richtige Mann für sie bin, werde sie nicht enttäuschen. Was sagen sie? Geben sie mir eine Chance für ein Kennlernen?“ Seine Versprechungen klangen wie Balsam für ihr Herz. Helmut würde nicht wiederkehren. Er hatte sie verlassen. Wahrscheinlich hatte er nie vorgehabt, seinen Dienst zu quittieren und ihr selbst geschriebenes Märchen wahr werden zu lassen. Sie musste sich ihre Träume von einem Leben in Freiheit aus dem Kopf schlagen und ihre Rolle als Frau annehmen, wenn sie nicht noch mal in Schaum aufgehen wollte. Stefan schien verlässlich und bodenständig zu sein. Anstatt romantischer Momente, die verfliegen, würde sie ein Leben bekommen, das sicher ist. Anne verabschiedete sich schwermütig von Helmut und ihrem Haus am Meer und sagte ja. 

Ihre Eltern begrüßten ihre Entscheidung und motivierten sie dazu, ihre Beziehung zu Stefan zu intensivieren. Sie trafen sich regelmäßig. Stefan war beständig und zuverlässig, zeitgleich aber auch ohne Leidenschaft und Träume. Für ihn bedeutete Glück, in Routinen zu leben, einen gewissen Wohlstand erreicht zu haben und andere mit Statussymbolen zu beeindrucken. Alles Dinge, auf die Anne keinen Wert legte. Bis sie Stefan traf. Sie fing an, sich anzupassen. Stück für Stück. Zunächst gab sie ihr wildes Träumen auf. Auch wenn das Meer im Schlaf immer wieder nach ihr rief und Helmuts Bild lebendig wurde. Nach dem Aufwachen beruhigte sie sich mit dem Gedanken, dass sich die Erinnerungen mit der Zeit verflüchtigen würden. Jedes Mal rieb sie sich die Augen, um die Realität zu erkennen. Stefan war hier. Er blieb. Wenn sie dafür einige Einschränkungen in Kauf nehmen musste, war das in Ordnung für sie. Ihre Eltern waren glücklich und sie war es auch. Zumindest redete sie sich dies ein. 

Stefan machte ihr ziemlich schnell einen Antrag. Nach 6 Monaten ging er vor ihr auf die Knie. Sie nahm den Antrag an, weil sie nicht mehr darüber nachdenken wollte, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Ein Leben, dass sie sich mit Helmut nach ihren Vorstellungen ausgemalt hatte. Nach der Hochzeit bauten sie ein Haus und zogen sie aufs Land. Sie wurde Mutter von zwei Kindern. In dieser Zeit wurde sie ebenfalls pragmatisch und verdrängte ihre Sehnsucht nach Romantik. Sie lebte nach Routinen, um Kinder und Mann zufrieden zu stellen. Nach außen hin wirkte sie glücklich, doch im Inneren wuchs ihre Unzufriedenheit. Die Ehe zu Stefan wurde immer liebloser. Sie erzog die Kinder und kümmerte sich um das Haus, er ging in Männerclubs seinen Geschäften nach. Sie entfernten sich immer weiter voneinander. Dennoch hielt Anne an ihrer Ehe fest. Auszubrechen, um ihrer Sehnsucht zu folgen, kam für sie nicht in Frage. 

Als die Kinder das Haus verließen, schwächte ihre Verbindung weiter ab. Es gab keine gemeinsamen Themen mehr. Während er sein Unternehmen vergrößern wollte, legte sie einen Garten an und pflanzte Blumen darin. Immer exotischer wurden ihre Pflanzen, bis der Garten eine bunte Oase war. Jeden Tag saß sie in ihm, schloss die Augen und hörte das Rauschen der Wellen. Sie fühlte sich zu Hause und ihrer Sehnsucht nahe, frei entscheiden zu können, wie sie leben wollte. Stefan zeigte wenig Interesse und Verständnis für ihren Garten. Er nickte ihre Ideen und Umsetzungen ab. Obwohl beide nebeneinander her lebten, trennten sie sich nicht. Sie hatten sich daran gewöhnt, nicht alleine sein zu müssen. Doch Anne fühlte sich einsam, da es niemanden in ihrem Leben gab, der sie und ihr Wesen verstand. 

Eines morgens wachte sie auf und realisierte, dass sie ihr Leben so nicht weiterführen wollte. Der Garten reichte ihr nicht. Sie wollte mehr, weshalb sie die Scheidung von Stefan einreichte.

Sie las den Brief. 

Mein Herz, 

vergib mir, dass ich mich erst jetzt bei dir melde. Die Ereignisse haben sich überschlagen. Mein Vorgesetzter hat mein Gesuch angehört und akzeptiert. Mit der Bedingung, unsere Truppen bei einem letzten Einsatz anzuführen. In Anbetracht unserer Pläne habe ich übereilt zugestimmt. Ich will frei sein, für dich, für uns. Für unser Haus am Meer. Der Einsatz wird ein halbes Jahr andauern, danach kehre ich nach Hause zurück. Zurück zu dir. Wie könnte ich nicht, mit der Aussicht auf eine Zukunft mit dir. Bitte warte auf mich und vertraue darauf, dass wir zueinander gehören. Ich werde dir wieder schreiben und warte voller Vorfreude auf deine Antwort. 

Dein liebender Helmut 

Er hatte sie nicht verlassen, er hatte sie aus tiefstem Herzen geliebt. Ihre Mutter musste seinen Brief abgefangen haben. Anne wurde bewusst, dass sie nicht nur ihn sondern auch sich selbst verloren hatte. Sie hatte ihre Träume aufgegeben und ein Leben gelebt, das sie nicht glücklich gemacht hatte. 

Inmitten all der alten und verstaubten Sachen, die sie nach dem Tod ihrer Mutter auf dem Dachboden ihres Elternhauses begutachtete, sah sie ihn vor sich und hörte seine Worte über das Leben. Sie fing an zu weinen. Um das, was hätte sein können, wenn sie an ihre ihre Liebe geglaubt hätte. Als sie ihre Tränen getrocknet hatte, blickte sie erneut in die Kiste und fand versteckt in alten Zeitschriften weitere Briefe von ihm. Anne entschied sich, sie nicht zu lesen. Es gab kein was wäre wenn, nur ein es Ist. Sie war 58 Jahre alt, von Stefan geschieden und würde ans Meer zu ziehen. Sie fühlte, dass sein Brief sie darin bestärkte, ihren Träumen und Sehnsüchten zu folgen.

Sie stand am Ufer und richtete ihren Blick in die Ferne. Dann zog sie ihre Kleider aus, bereit, nackt im Meer zu schwimmen, um das Leben auf der Haut zu spüren. Sie war endlich sie selbst und würde das Leben leben, das sie glücklich macht. Sie schloss die Augen und flüsterte „Ich liebe dich Helmut.“  

Veröffentlicht von Lene

Ich würde mich als emphatische und entspannte Person bezeichnen, die versucht, ihre Erlebnisse in Wort und Schrift darzustellen. Also alles was mein Herz in irgendeiner Art und Weise berührt, verarbeite ich schriftlich. Ich bin kein Meister der Poesie. Manches mag sich holprig anhören, aber so ist mein Schreibstil. Ich bin auch nicht festgelegt auf eine Art von Text, jedenfalls noch nicht. Ich probiere gerne mal aus, dass merkt man auch an meiner Website: Sie ist recht bunt. Ich denke gerne bunt, denn für mich ist es das Leben auch. Mich freut es einfach, wenn der ein oder andere etwas mit meinen Texten anfangen kann oder sich vielleicht sogar darin wiederfindet. Viel Spaß beim Lesen. Und danke für euren Abstecher in meine kleine, bunten Welt. Vielleicht bis bald. 🤗 Lene

4 Kommentare zu „Der Brief

  1. Wie viele solcher oder ähnlicher Briefe entweder noch irgendwo liegen oder im Küchenofen verbrannt wurden? Wie viele Träume auch heute noch nicht Wirklichkeit werden können, weil andere bestimmen und glauben zu wissen, was gut für andere ist.

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