Nach einer durchzechten Partynacht verlasse ich den Club. Menschenverlassene Straßen flüstern und Leere breitet sich in mir aus. Mit zu viel Alkohol im Blut stolpere ich Richtung Taxistand, bemerke aber, dass ich zu unruhig bin, um nach Hause zu fahren. Schlafen kann ich sowieso nicht. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass 04:30 Uhr zu früh ist, um meine beste Freundin anzurufen. Ich weiß nicht, wohin mit mir. Also lasse ich mich treiben. Der Weg ist das Ziel. Wenn man ihn findet.
Mein Alkoholpegel sinkt. Mit jedem Schritt denke ich klarer und realisiere, was passiert ist. Tobias hat mit mir Schluss gemacht. Die nächste Beziehung, die gegen die Wand gefahren ist. Auf der Suche nach dem nächsten Betäubungsmittel kaufe ich im Kiosk Bier und Zigaretten. Ich trinke eine Schluck und ziehe am Glimmstengel. Das Bier schmeckt bitter und vom Rauch wird mir schlecht. Es klappt nicht. Der Rausch bleibt aus. Stattdessen kämpft sich der Schmerz ins Herz und fühlt tief. Ich nehme meine Beine in die Hand und laufe davon. Vor mir selbst und alldem, was ich nicht fühlen will. Wenn das nur so einfach wäre. Ohne Ablenkung von Außen, bemerke ich, wie verloren ich bin. Die Stadt wirkt riesengroß und ich ameisenklein. In diesem Moment, der mir meine Endlichkeit bewusst macht, verstehe ich, dass ich fühlen muss, um meinen Weg nach Hause zu finden. Es geht nicht um Tobias oder meine gescheiterten Beziehungen, sondern um mich.
Trotz der Jahre, die an mir vorüberziehen, weiß ich weder wer ich bin noch was ich will. Ich spreche mit falscher Stimme, die sagt, dass alles gut ist. Doch nichts ist gut. Nicht mal ansatzweise. Ich bin eine Schauspielerin und reinszeniere mein Drama in Dauerschleife, mit wechselnden Statisten, die ich benutze, um meine eigene Unzulänglichkeit zu kaschieren. „Applaus, Applaus“, vom Publikum, das aus mir selbst besteht; Glaubenssätzen, die mir jubelnd entgegenrufen: „Wir haben dir gesagt, dass du nicht liebenswert bist.“ Das Ende ist vorhersehbar. Ich schreibe es immer wieder, um mich spüren zu können. Den Schmerz, den ich aus meiner Kindheit kenne und den ich nicht loslassen kann, weil ich ihn verdränge, bis er mich in den Hintern beißt. Der abwesende Vater, in den Männern, die ich mir unbewusst als Partner aussuche und um deren Liebe ich bettele, bis sie sich mir komplett entziehen, weil sie mich als Wolf im Schafspelz erkennen.
Die Sonne kitzelt den Horizont. Ein neuer Tag bricht an, mit tausend Möglichkeiten, neu anzufangen. Wie poetisch, wie hoffnungsvoll das klingt. Als sei es so einfach, neu anzufangen; aufzuräumen, zwischen Schutt und Asche, dem Dreck in der man steht. Wie packe ich es an? Ich weiß es nicht.
Mein Schmerz gehört zu mir, wie mein Name an der Tür. Wer bin ich ohne ihn?
Die Sonne steht am Himmel und beleuchtet den See, der vor mir liegt. Das Licht, das gebrochen wird, spiegelt sich, als sei es ein Heiligenschein. Ich sehe klar. Ich will fühlen. Ich will nach Hause kommen.
Meine Beinen, die nicht mehr weglaufen wollen, geben nach. Ich gehe auf die Knie, um mich an der Oberfläche zu spiegeln. Ohne Betäubungsmittel, schutzlos und verletzlich. Das hässliche Entlein in mir schreit, um den Schwan, der ich sein könnte, wenn ich mich nur lieben würde. Die Staudämme brechen, all der aufgestaute Schmerz bricht aus und löst sich in Tränen auf.
Ich stehe auf und gehe erste Schritte. Alles fühlt sich wackelig an. Ein langer Weg liegt vor mir. Noch bin ich kein weißer Schwan. Eher ein Phönix, der sich aus seiner Asche erhebt. Für den Flug fehlt es noch an den Mut. Es ist ein Anfang. Ich gehe nach Hause und irgendwann, werde ich ankommen.

Sehr gut geschrieben, liebe Lene! Manches kommt mir bekannt vor. Zum Glück war ich schon immer alkoholfrei. 💚Gisela
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Vielen lieben Dank Gisela! Was soll ich sagen, ich schreibe meistens auf Basis meiner Erfahrungen… Schönen Abend und liebe Grüße 🫶
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Toll geschrieben … 👌🏻
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Lieben Dank ❤️
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