Nora war 16 Jahre alt. Sie war ein schmales großes Mädchen mit hellem Teint und Sommersprossen. Während sich andere Teenager in ihrem Alter schminkten oder ihre Haare stylten, trug sie meistens Pferdeschwanz und alte Klamotten, die sie vom Flohmarkt kaufte. Ein Hobby, das sie mit ihrer Mutter teilte. Das alles änderte sich, als Christine in ihr Leben trat.
Bis dahin war ihre Mutter, von der sie Mausi genannt wurde, ihre einzige Freundin für sie gewesen.
Mit 6 Jahren erkrankte sie an Leukämie. Von diesem Zeitpunkt an, drehte sich für über zwei Jahre alles um ihre Krankheit. Es war ein ständiges Hoffen und Bangen, das mit der Suche nach Stammzellenspendern, Bestrahlungen, Leukozyten messen und Eingriffen verbunden war. Ihre Mutter, die immer an ihrem Bett saß, erklärte ihr, dass sie krank ist und sich ausruhen muss. Nora verstand damals nicht, genau was Leukämie ist. Sie hatte keine Haare mehr und war sehr blass. An manchen Tagen hatte sie starke Schmerzen und fühlte sich matt. Vor allem nach den Bestrahlungen.
Nachts wachte sie oft wegen ihrer Schmerzen auf. Immer wieder hörte sie ihre Mutter im Bad leise weinen. Dann betete sie: „Lieber Gott, mach das die Leukämie weggeht, damit meine Mama nicht mehr weinen muss.“ Ihr Wunsch wurde erhört. Sie gesundete vollkommen und kehrte nach Hause zurück.
Während Nora damit beschäftigt war, sich wieder in den Alltag einzuleben, kontrollierte ihre Mutter sie auf Schritt und Tritt: „Mausi, geh besser nicht nach Draußen zum Spielen. Der Wind ist heute sehr stark. Du willst doch nicht krank werden?“ , sagte sie, wenn sie mit Nachbarskindern auf den Spielplatz gehen wollte. Hustete sie etwas oder lief ihr die Nase, zeigte sie sich überfürsorglich: „Mausi, hast du Fieber? Deine Wangen sind so rot. Ich hol schnell mal das Thermometer. Danach hole koche ich dir einen Tee und du kuschelst dich in die Decke.“ Es schien ihre Mutter glücklich zu machen, sie zu umsorgen., weshalb Nora ihre enge Fürsorge akzeptierte, auch wenn sie sich insgeheim mehr Freiheiten wünschte.
Mit der Einschulung wurde Nora mit neuen Problemen konfrontiert. Sie hatte große Wissenslücken und war älter als alle anderen. Sie fühlte sich ausgegrenzt und fand keinen Anschluss. Sie weinte oft und war unglücklich über ihre Schulbesuch. Ihre Mutter überredete ihren Vater, sie von der Schule zu nehmen und einen Privatlehrer zu engagieren. „Horst, sie fühlt sich dort nicht wohl. Willst du, dass es ihr schlecht geht und sie dadurch wieder krank wird?“ „Wie du meinst Helga.“ Für ein Jahr wurde Nora zu Hause unterrichtet. Ihre Mutter umsorgte sie mehr denn je. Sie verbrachten fast jede freie Minute miteinander, spielten Gesellschaftsspiele, tranken Tee oder gingen auf Flohmärkte.
Ihr Vater missbilligte diese Entwicklung und setzte sich schließlich durch. Nora wurde mit 10 Jahren auf eine Privatschule eingeschult.
Nora gelang trotz ihrer Angst vor den neuen Herausforderungen der Neustart. Sie hatte ihre Wissenslücken durch den Privatunterricht geschlossen und besuchte eine altersgerechte Klasse. Sie näherte sich ihren Schulkameraden an und begann sich für ihre Aktivitäten zu interessieren Sie blühte förmlich auf . Sie liebte es, mit anderen Draußen zu spielen, mit ihnen Staudämme zu bauen oder wild um die Wette zu rennen Alles war neu für sie. Sie fühlte sich zum ersten Mal lebendig. Je mehr sich Nora abnabeln wolle um so mehr wurde sie von ihrer Mutter eingeschränkt. Immer wieder musste sie sich von ihr anhören, dass wildes Rennen zu anstrengend für sie sei und das Bauen von Staudämmen zu gefährlich ist. „Was wenn du ausrutschst, in den Fluss fällst und dich verkühlst? Im schlimmsten Fall bekommst du eine Lungenentzündung und wir müssen wieder ins Krankenhaus.“ Einerseits verstand Nora ihre Mutter. Sie erinnerte sich an ihren Kummer, den sie wegen ihrer Krankheit gehabt hatte. Andererseits war sie traurig, weil sie nicht den Aktivitäten nachgehen durfte, die sie liebte. Sie gab das wilde Rennen mit anderen auf und blieb nach der Schule zu Hause. Ihrer Mutter zu liebe.
Im Alter von 16 Jahren war Nora zur Einzelgängerin geworden. Ihrer Mutter war zu ihrer ganzen Welt geworden. Mit ihr schaute sie zusammen stundenlang Serien oder besprach den Schulalltag. Über das, was sie fühlte, sprach sie mit ihr nicht. Nora, fehlte etwas, doch sie wusste nicht was. Ihre Gefühle verwirrten sie. Sie verdrängte sie und stumpfte ab, weil sie nicht über sie sprach. Auch mit ihrem Vater nicht. Er war nicht greifbar für sie und die meiste Zeit auf Geschäftsreise.
Eines Tages, wurde sie in der Schulpause von einem Mädchen angesprochen. Nora kannte sie nicht „Du hast so schöne rote Haare.“ „Danke.“ Warum trägst du immer einen Pferdeschwanz? Hätte ich deine Haare, würde ich sie immer offen tragen. Doch mit meinen dünnen Fransen sieht das unmöglich aus“ „Hmm.“ „Du redest nicht viel oder? Ich beobachte dich schon länger. Du sitzt in Geschichte hinter mir. Wie heißt du überhaupt? Ich bin Nora und du?“ „Ich heiße Christine.“ Warte, ich nehme dir mal dein Haargummi heraus. Ah besser. Und jetzt schüttel mal deine Haare. Toll.“ Mit dem Kennenlernen von Christine veränderte sich Noras Leben. Sie freundete sich mit ihr an und begann sich von ihrer Mutter zu lösen. Sie ließ sich nicht mehr von ihr zur Schule fahren, sondern traf sich mit Christine, um mit ihr zusammen zum Unterricht zu gehen. Sie trug ihre Haare offen, nutzte Make Up und kaufte sich moderne Kleidung. Zum ersten Mal war es Nora egal, was ihre Mutter dazu sagte. Christine war ihr wichtiger. Mit ihr fühlte sie sich frei und lebendig. Wie damals, als sie mit 10 Jahren über Fußballplätze rannte und Staudämme baute. Ein Gefühl von Freiheit, das sie geliebt, aber vergessen hatte.
Zunehmend sprach sie mit Christine auch über ihr bisheriges Leben und ihre damit verbundenen Gefühle. Nora erzählte ihr von ihrer Krankheit. „Ah, deshalb ruft deine Ma auch ständig bei dir an.. Hast du deswegen auch Angst Cafés zu besuchen oder einkaufen zu gehen ?“ „Wie meinst du das?“ „Naja, immer wenn wir Dinge außerhalb deines Zuhauses oder der Schule unternehmen wollen, zeigst du Angst. So als ob du das alles zum ersten Mal machst. Hattest du denn keine Freunde vor mir?“ „Meine Mama ist meine beste Freundin.“ „Deine Mama?“ Christine lachte. Nora fühlte sich bloß gestellt. „Mir gehen meine Eltern manchmal auf den Keks. Ich könnte mir nicht vorstellen, meine Ma als beste Freundin zu bezeichnen. Du hast wirklich Nachholbedarf.“ Nora packte ihre Tasche und stand entrüstet auf. „Meine Mama war immer für ich da. Vor allem als ich krank war. Ich finde es toll, dass sie sich so um mich kümmert. Du hast doch gar keine Ahnung. Ich muss gar nichts nachholen. Ich habe keine Angst, sondern einfach keine Lust meine Zeit mit langweiligen Dingen wie shoppen oder Jungs im Café zu beobachten zu verbringen.“ Nora ging und ließ Christine verdutzt zurück.
Abends dachte Nora in ihrem Bett über die Worte von Christine nach. Sie war ohne Essen in ihr Zimmer gegangen. Ihre Mutter klopfte alle fünf Minuten an ihre Tür und fragte, ob alles in Ordnung ist. Sie fühlte sich erdrückt von ihrer Fürsorge „Ma, lass mich bitte in Ruhe. Alles ist ok. Ich bin einfach nur müde.“ „Ma? Seit wann bin ich Ma. Mausi, lass mich doch rein. Ich will nur für dich da sein. Hast du dich mit Christine gestritten?“
Bei dem Wort Mausi zuckte sie zusammen. „ Nein, es ist nichts passiert. Ich bin nur müde und möchte schlafen. Ich melde mich, wenn ich etwas brauche. Und kannst du das mit dem Mausi mal sein lassen? Ich bin mittlerweile 16 Jahre alt“ „Na gut, wie du meinst. Ich bin unten, falls du es dir anders überlegst.“
Nora,empfand Erleichterung,, als ihre Mutter ging und fing an, ihre Gedanken zu sortieren Warum hatten sie die Worte von Christine getroffen? Was war so schlimm an ihnen gewesen, dass sie verletzt davon gerannt war? Sie war es gewohnt, nur ihre Mutter als Freundin zu haben und Mausi zu sein. Doch war sie glücklich damit? Sie erinnerte sich an die Anfangszeit ihrer Einschulung in die Privatschule. Wie lebendig sie sich gefühlt hatte, als sie begann, Kind zu sein und wie traurig sie war, als sie dies aufgegeben hatte, damit ihre Mutter glücklich ist. Christine hatte sie schmerzlich daran erinnert, wie sehr sie es vermisst hatte, sie selbst sein zu dürfen.
„Ich will endlich leben“, dachte Nora. Mit diesem Gedanken schlief sie ein.
Beim Frühstück am nächsten Morgen nahm sich Nora fest vor, mit ihrer Mutter zu sprechen. Sie wollte ihr sagen, dass sie sich mehr Freiraum wünscht und ihr eigene Leben leben möchte. Als sie die Küche betrat, schmierte ihre Mutter Brote. „Na Mausi, wieder alles in Ordnung? Ich habe mir Gestern echt Sorgen gemacht. Was war denn nun los?“ Bevor Nora antworten konnte, äußerte ihre Mutter einen Vorschlag: „Wie wäre es, wenn wir nach der Schule zusammen ein Eis Essen gehen. Wir bestellen uns einen großen Becher mit Kirscheis und Sahne. Das ist doch dein Lieblingseis.“ Nora stockte, der Mut ihr Anliegen offen anzusprechen, verließ sie.. Wie sollte sie ihrer Mutter schonend beibringen, dass sie mit ihr heute kein Essen gehen möchte und Kirscheis nicht mehr mag, seit sie 12 Jahre alt ist. Viel lieber wollte sie mit Christine über Gestern sprechen und etwas mit ihr unternehmen. „Hmm“, antwortete sie. „Ich hole dich nach der Schule ab und wir machen uns einen schönen Tag. Deine Mama weiß doch, was du brauchst. Hier deine Schulbrote. Mit Salami und Käse. So wie du es magst.“
Sie nahm die Brote wortlos entgegen und verabschiedete sich. Ihre Mutter drückte sie beim Abschied fest an sich, Nora fühlte sich erneut beengt. „Soll ich dich schnell fahren Mausi? Es ist doch recht windig. Nachher erkältest du dich noch. „Nein danke, Ma.“ Tschüss Mausi, bis später. Ich freu mich.“ „Tschüss, bis später.“ Nora drehte sich um und verließ das Haus.
Auf dem Weg zur Schule warf sie ihre Brote weg und kaufte beim Bäcker eine Mohnschnecke. Sie dachte über das Gespräch mit ihrer Mutter nach. Plötzlich kamen Zweifel in ihr auf. Vielleicht war es doch nicht der richtige Weg, sie mit ihrem Wunsch nach mehr Freiraum zu konfrontieren. Was, wenn sie ihre Mutter damit verletzte?. Sie hatte sich immer um sie gekümmert, vor allem als sie krank gewesen ist. Nora war hin und her gerissen.
Kurz vor dem Schulhof hielt sie inne. Christine hatte nicht wie sonst beim Bäcker auf sie gewartet. Sie hatte sich auch nicht bei ihr gemeldet. Nervös betrat sie das Klassenzimmer. Dort entdeckte sie Christine. Sie hatte ihren Platz gewechselt und saß nun neben Paula. „Na hat Mami dich zur Schule gefahren?“ Paula lachte, während Christine betreten zu Boden blickte. Mit hochrotem Kopf setzte sich Nora. Die Schulstunden rauschten an ihr vorbei. In den Pausen versteckte sie sich auf der Toilette und weinte. Sie hatte ihre einzige Freundin verloren und war wieder ganz allein. Sie würde wieder nach der Schule zu Hause bleiben, Zeit mit ihrer Mutter verbringen, mit ihr zusammen kochen oder Fernsehen. Ein Gefühl von Enge machte sich in ihr breit. Sie amtete schwer und konnte sich nur mit Mühe für den nächsten Unterricht beruhigen.
Nach dem letzten Gong nahm sie ihre Sachen und ging an Christine, die mit ihr sprechen wollte, vorbei.
Auf dem Schulhof angekommen vernahm sie ein Hupen und erblickte das Auto ihrer Mutter. Das Gefühl von Enge kam erneut in ihr hoch. Sie schluckte es herunter und ging auf ihre Mutter, die das Fenster herunter kurbelte, zu. „Na Mausi, einen schönen Tag gehabt? Schau mal, was ich dir mitgebracht habe. Deinen Lieblingskakao. Komm steig schnell ein, damit wir losfahren können.“ Nora nickte und stieg ins Auto. Sie konnte ihr nicht sagen, was in ihr vorging und wie sie sich fühlte. Hauptsache ihre Mutter war glücklich. Sie fuhren los. Ihre Mutter redete ohne Punkt und Komma, Nora antwortete nicht. „Mausi was ist los? Hörst du mir überhaupt zu? Was bedrückt dich? Mir kannst du es doch erzählen. Ich bin deine Mutter und immer für dich da.“ Sie standen an der Ampel und warteten auf Grün. Nora blickte auf das rote Lichtsignal, alles in ihr rauschte. Plötzlich explodierte sie.
„Ich bin nicht mehr Mausi. Hör auf damit. Ich kann den Namen nicht mehr hören. Ich darf keine Freunde haben, ich darf keinen Sport treiben und ich darf auch nicht normal leben. Es ist immer noch so, als ob ich krank bin. Ich bin nie gesund geworden und immer noch im Krankenhaus. Eingesperrt, in meinem Zimmer, mit weißen Wänden und weißen Möbeln. Du hast mich nie gesund werden lassen. Du engst mich ein. Du nimmst mir die Luft. Du machst mich krank. Es tut mir leid, dass du wegen mir leiden musstest, aber ich kann so nicht mehr weiterleben. Ich will endlich mein eigenes Leben führen. Wissen, wer ich bin und was ich mag, ohne, dass du mir sagst, was ich tun darf und was nicht. Doch das wirst du niemals zulassen.“
Nora riss die Tür auf und rannte davon. Sie hatte kein bestimmtes Ziel. Sie wollte nur weg. Allein sein, sich spüren, ihre Gefühle zulassen. Ihr Herz pochte, sie rang nach Atem und doch fühlte sie sich lebendig. Sie hatte sich ihrer Mutter widersetzt und eine eigene Entscheidung getroffen.
„Horst. Sie ist einfach davon gelaufen. Mitten an der Ampel ist sie ausgestiegen. Wir hatten einen furchtbaren Streit und sie hat mich angeschrien. Dass ich sie einenge und krank mache. Sie geht nicht an ihr Handy und Christine weiß auch nicht, wo sie ist. Ich mache mir solche Sorgen. Was sollen wir nur tun. Was wenn ihr was passiert ist?“ „Bleib ruhig Helga. Hör auf, sie ständig anzurufen. Geb ihr mal ein bisschen Luft. Nora ist ein vernünftiges Mädchen. Lass uns zu Hause treffen und auf einen Anruf von ihr warten. Ich fahre gleich los.“ „In Ordnung. Horst.“ „Ja?“ „Sie hat Recht oder?“ „Darüber reden wir später.“
Nora saß auf einer Bank im Park. Sie wusste nicht, wie sie dorthin gekommen war. Sie blickte in die Ferne. Ihr Handy hatte ununterbrochen geklingelt. Immer wieder riefen ihre Mutter oder Christine an. Sie schaltete es aus. Hier saß sie nun und dachte nach. Allein. Sie war dieselbe Person und doch war sie es nicht. Zum ersten Mal hatte sie ihre Gefühle ausgesprochen und all das gesagt, was sich über die Jahre in ihr aufgestaut hatte. Obwohl sie sich besser fühlte, plagten sie auch Schuldgefühle und Zukunftsängste. Sie hatte ihre Mutter vor dem Kopf gestoßen und verletzt. Wie sollte es nun weitergehen? Was, wenn sie beide nicht mehr zueinander fanden? Hatte sie ihre Mutter, die immer für sie da gewesen ist, für immer verloren? Falls ja, war es das wert gewesen?
Der Wind wehte durch ihre Haare, sie fröstelte Es war mittlerweile Abend geworden. Die Sonne ging langsam unter. In diesem Moment den sie bewusst erlebte, war alles gut. Es würde sich eine Lösung finden, da war sich Nora sicher. Sie verabschiedete sich von diesem Tag und von ihrem alten Ich. Sie hatte immer nur das getan, was ihre Mutter von ihr wollte. Sie hatte nie herausgefunden,wer sie wirklich ist und was sie glücklich macht.
Wer bin ich eigentlich? Was macht mich aus? Was mag ich und was nicht? Diese Fragen hatte sich Nora nie gestellt. Sie betrachtete den Sonnenuntergang und überlegte, wer sie sein wollte.
Als sie sich bereit fühlte, schaltete sie ihr Handy an. Es vibrierte mehrmals. Nachrichten und Hinweise zu verpassten Anrufen gingen ein. Sie holte tief Luft und rief ihre Mutter an. „Ja, Mama. Ich bin es. Mir geht es gut. Es tut mir leid, dass ich einfach weggelaufen bin. Kannst du mich bitte abholen? Ich habe keine Ahnung ,wie ich nach Hause kommen soll. Ich schicke dir meinen Standort. Danke. Bis gleich.“
Nora stand zitternd am Straßenrand, als der Wagen ihrer Eltern vor fuhr und anhielt. Ihr Vater sprach aus dem geöffneten Fenster zu ihr: „Steig schnell ein. Wir haben eine Decke und heißen Kakao dabei.“ Während der Fahrt sprach niemand ein Wort. Sie trank vom heißen Kakao, eingehüllt in eine Decke und blickte aus dem Fenster.
Zu Hause angekommen, zog sie ihre Jacke und Schuhe aus. Ihre Eltern gingen in die Küche. Sie hörte Tüten rascheln und Geschirr klappern. „Willst du was essen Nora?“ fragte ihr Vater. „Du musst ja am Verhungern sein.“ „Ich geh erst mal heiß Duschen.“ „Mach das. Bis gleich.“
Die Dusche tat gut. Sie spürte ihren Körper und atmete entspannt. Die Enge, die sie verspürt hatte, fiel von ihr ab. Danach wischte sie über den Spiegel und betrachtet ihr Gesicht. Sie mochte ihre grünen Augen, die roten gelockten Haare und ihre Sommersprossen. Auch ihre Grübchen gefielen ihr. Ein bisschen Zunehmen könnte ich“, dachte sie und atmete in ihren Bauch, bis er deutlich hervortrat. Als er grummelte, lachte sie und sagte:„Ich habe Hunger.“
Ihre Eltern nahmen ihr Essen stillschweigend ein. Auch danach sprachen sie kein Wort mit ihr. Schließlich begann Nora das Gespräch mit ihnen:. „Soll ich noch beim Aufräumen helfen Mama?“ „Nein Danke Mau, ähh Nora. Dein Vater und ich räumen schnell das Geschirr in die Spülmaschine. Danach möchten wir gerne im Wohnzimmer mit dir reden.“ „Ok.“
Nora saß auf dem Sofa und knetete nervös ihre Finger. Ihre Eltern kamen ins Wohnzimmer und setzten sich ebenfalls „Ich möchte mich entschuldigen. Ich weiß, dass es falsch war, wegzulaufen. Ich war nur so (…) Also ich wollte (…)“, stieß es aus ihr hervor. „Wir müssen uns entschuldigen“, ihre Mutter blickte zu ihrem Vater. „Du hattest Recht. Ich habe dich immer noch wie ein kleines krankes Kind behandelt, das von seiner Mutter umsorgt werden muss. Ich habe dich nicht wachsen lassen, verhindert, dass du Erfahrungen sammeln kannst. Die Zeit damals war so schlimm (…)“, ihre Mutter schluckte. „Helga.“ „Was denn Horst? Ach ja, ich möchte dir kein schlechtes Gewissen machen. Es ist nur, du warst unser einziges Kind. Es hat lange gedauert, bis ich schwanger geworden bin Als du dann krank geworden bist, ist eine Welt für mich zusammen gebrochen. Es war furchtbar für mich, dir bei deinem Leid zuzusehen. Ich hatte große Angst, dich zu verlieren, wollte aber dennoch stark sein, für dich und für mich. Daran habe ich festgehalten. Mir hat diese Einstellung geholfen, meine Hoffnung nicht aufzugeben, dass du wieder gesund wirst. Dafür war ich bereit alles zu tun.
Ich habe ich mit niemandem über meine Angst und meinen Schmerz gesprochen. Auch mit deinem Vater nicht. Alls dies nicht aufzuarbeiten, hat wohl dazu geführt, dass du für mich mein kleines krankes Mädchen geblieben bist, dass ich umsorgen muss. Das war nicht richtig von mir Nora. Ich hätte Verantwortung für meine Gefühle übernehmen müssen, damit sie unsere Beziehung nicht beeinflussen. Es tut mir leid.“ Ihr Vater übernahm anschließend das Wort. „Ich muss mich ebenso bei dir entschuldigen. Ich war damals die meiste Zeit abwesend. Ich konnte mit der ganzen Situation nicht umgehen. Ich war wütend, dass ausgerechnet mein Kind krank geworden ist. Die Wut war stärker als ich. Daher habe ich es nicht geschafft, dich im Krankenhaus zu besuchen.
Ich habe mich für meine Schwäche geschämt. Aus diesem Grund habe ich wohl auch den Kontakt zu dir gemieden und nicht mehr für dich getan. Dabei hätte ich darauf bestehen sollen, dass deine Mutter dich loslässt, damit du dich frei entwickeln kannst. Wir haben uns nun ausgesprochen und ziehen jetzt an einem Strang. Deine Mutter will lernen, dich loszulassen und ich will mehr für euch da sein. Wir wollen Eltern werden, die dich dabei unterstützen, zu heilen, damit du später ein glückliches Leben leben kannst. Wir haben schon nach Familientherapeuten gesucht und eine Praxis gefunden, in der wir Morgen anrufen wollen. Was sagst?“
Nora war überwältigt von den Worten ihrer Eltern und wusste nicht, was sie erwidern sollte. Zum ersten Mal wurde sie von ihnen nach ihre Meinung gefragt. Sie konnte frei entscheiden, ohne, dass ihre Mutter ihr etwas vorgab. Zögerlich antwortete sie: „Ich weiß einfach nicht , was ich sagen soll. Es ist alles neu für mich. Ich will mich selbst finden, herausfinden, was ich mag, wer ich bin oder wer ich später sein will. Darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht. Ich habe immer versucht, so zu sein, wie du mich haben wolltest Ma, damit du glücklich bist.“
Ihre Mutter blickte betreten zu Boden und schluckte. „Es tut mir leid Nora.“
Es herrschte lange Stille, bis ihr Vater sagte: „Lass uns zusammen herausfinden, wer wir alle sein wollen. Als Familie. Wir helfen dir und du hilfst uns. Was meinst du?“ Nora nickte. Zunächst verhalten, dann entschieden. Alle drei blickten sich an und lächelten.

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