Der gepackte Koffer

Sie stand mit ihrem schweren Koffer am Bahnhof; er war voll mit ihren Träumen und Sehnsüchten, die im Laufe ihres Lebens aus ihrem Herzen gewachsen waren.

Der Koffer quoll fast über, ging kaum zu; sie hatte all ihre Träume und Sehnsüchte in ihn gepackt, da sie der Ansicht war, dass sie diese sowieso nie erfüllen würden. Irgendwann hatte sie aufgehört zu träumen oder sich nach etwas zu sehnen. Doch ihre Träume und Sehnsüchte, unausgesprochen, nicht gelebt, verfolgten sie und kratzen in leisen Momenten an ihre Herzenstür; sie hatte beschlossen, ihnen nicht mehr zuzuhören, ihren Bitten nach Einlass nicht nachzukommen und ihre Tür zu verschließen. Stattdessen hatte sie ihr Herz für eine Veränderung geöffnet; sie wollte einen Ort finden, an dem sie auf Träume und Sehnsüchte stieß, die sich erfüllen ließen.

Als der Zug einrollte und sie einstieg, spürte sie eine Woge von Erleichterung in sich, da sie all ihre Verletzungen und enttäuschten Enttäuschungen hinter sich ließ; zwar fühlte sie auch, dass sie vor sich selbst floh, verdrängte jedoch dieses unangenehme Gefühl.

Der Zug fuhr schnell, Ausschnitte von Orten zogen in Windeseile an ihr vorbei; gedanklich verfolgte sie die Stationen ihres Lebens, die wie Szenen eines tonloses Schwarzweiß Filmes vor ihrem inneren Auge abliefen. Sie dachte an Momente, die sie als ausgeträumten Traum oder nicht erfüllte Sehnsucht in ihren Koffer gepackt hatte; inklusive der Menschen, die sie damit verband. Irgendwann wurden ihre Erinnerungen an ihre Träume und Sehnsüchte, verbunden mit Momenten und Menschen aus ihrer Vergangenheit, zu vergilbten Fotos, auf denen kaum noch etwas zu erkennen ist; selbst, wenn man genauer auf sie blickt. Ihr Anblick war zu schmerzhaft für sie gewesen, daher hatte sie ihre Erinnerungen daran, zu schemenhaften Bildern werden lassen, um nicht mehr an sie denken zu müssen.

Sie blieb versunken, in ihrem tonlosen schwarzweiß Film. Der Zug fuhr weiter, zwischendurch nannte der Schaffner Haltestellen, deren Namen sie kaum verstand. An jeder Haltestelle hielt sie kurz inne und überlegte, ob sie aussteigen sollte, damit sie an einem anderen Ort, an dem sich Träume und Sehnsüchte erfüllen ließen, neu beginnen konnte. Doch immer wieder kamen Zweifel in ihr auf; sie stellte sich die Frage, ob sie mit ihrem Koffer aus der Vergangenheit, der gefühlt fast einen Zentner wog, wirklich neu beginnen konnte. Sie konnte diese Frage an keiner Haltestelle beantworten; der Zug fuhr jedes Mal weiter und sie stieg nicht aus.

Ihr schwarzweiß Film war zum Ende gekommen und sie blickte zum Fenster heraus. Sie sah die Spiegelung ihres Gesichts und erschrak, denn sie bemerkte, dass sie ihr Gesicht nicht erkannte; unweigerlich fragte sie sich, ob sie ihre Träume und Sehnsüchte überhaupt kannte oder ob sie an etwas Vergangenem festhielt, was im Heute keine Gültigkeit mehr hatte. Sie hatte lange nicht mehr in ihren Koffer geblickt, um diesem schmerzhaften Gefühl Chancen in ihrem Leben verpasst zu haben, keinen Raum zu geben. Ihr wurde klar dass sie gar nicht wusste, von was sie heute träumte oder wonach ihr Herz sich sehnt; sie war in der Vergangenheit steckengeblieben und in alten Verletzungen, die sie, weil sie zu schmerzhaft waren, nie betrachtet oder verarbeitet hatte. Solange sie nicht in ihren Koffer blicken würde, Träume und Sehnsüchte von Damals ignorierte, würde sich auch an einem anderen Ort nichts für sie ändern, da sie die gleiche blieb; sie blieb gefangen in sich selbst, da sie in ihren alten Denk- und Handlungsmustern verharrte. Sie hatte es sich bequem in ihnen gemacht, aufgehört zu fragen, von was sie träumte oder wonach sie sich sehnte; denn sie hatte gelernt, dass sich nichts von alldem erfüllte und daran hielt sie auch im Heute fest. Also hing sie ihren alten Träumen und Sehnsüchten nach, überprüfte nicht, welche im Heute noch Gültigkeit hatten und welche sie loslassen konnte. Sie hatte nichts getan, war in Passivität verfallen, gleichzeitig aber erwartet, dass sich etwas, für sie ändert, indem sie ihre örtliche Umgebung wechselt. Doch nun wurde ihr klar, dass sie sich ändern musste; dass sie ihren Koffer auspacken musste, Dinge fühlen musste, um alte Träume und Sehnsüchte zu betrachten bzw. neue hinzuzugewinnen, die sich nur durch ihre Aktion erfüllen würden. Sonst würde sie an einem anderen Ort nur wieder ihren Koffer füllen; mit weiteren Träumen und Sehnsüchten, die sich ihrer Ansicht nach nicht erfüllen ließen. Ihr Koffer würde noch schwerer werden, so dass sie an ihm gefesselt blieb.

„Endstation“, ertönte es aus den Lautsprechern. Sie sah sich um und erblickte den ihr bekannten Bahnhof; an diesem Bahnsteig war sie eingestiegen. Ihr wurde klar, dass sie auf dieser Zufahrt keinen anderen Ort gefunden hatte, sondern sich selbst. Sie war dort angekommen, wo sie schon vor Jahren hätte ankommen müssen; bei sich selbst.

Sie lächelte, als sie ihren Koffer ergriff um auszusteigen; er wog weniger als zuvor. Als sie wieder am Bahnsteig stand, hatte sie etwas in ihr verändert; sie war nicht mehr dieselbe wie zuvor. Nun wusste sie, dass sie wirklich neu beginnen konnte. Sie machte sich auf den Weg in ihr neues Leben; als erstes wollte sie ihren Koffer auspacken, damit er leichter wird. Sie wollte nicht mehr von ihren unerfüllten Träumen oder Sehnsüchten verfolgt werden, daher würde sie ihnen von nun an zuhören, ihnen nachgeben, um sie erfüllen zu können. Sie nahm sie auch vor, wieder zu träumen, Sehnsüchten Raum geben, denn sie hatte alles Glück der Welt verdient und es lag einzig an ihr, es einzufordern; sie musste endlich an sich bzw. ihre Träume glauben und Sehnsüchte zulassen, damit sie etwas dafür tun konnte, dass sie beides für sie erfüllt.

Veröffentlicht von Lene

Ich würde mich als emphatische und entspannte Person bezeichnen, die versucht, ihre Erlebnisse in Wort und Schrift darzustellen. Also alles was mein Herz in irgendeiner Art und Weise berührt, verarbeite ich schriftlich. Ich bin kein Meister der Poesie. Manches mag sich holprig anhören, aber so ist mein Schreibstil. Ich bin auch nicht festgelegt auf eine Art von Text, jedenfalls noch nicht. Ich probiere gerne mal aus, dass merkt man auch an meiner Website: Sie ist recht bunt. Ich denke gerne bunt, denn für mich ist es das Leben auch. Mich freut es einfach, wenn der ein oder andere etwas mit meinen Texten anfangen kann oder sich vielleicht sogar darin wiederfindet. Viel Spaß beim Lesen. Und danke für euren Abstecher in meine kleine, bunten Welt. Vielleicht bis bald. 🤗 Lene

8 Kommentare zu „Der gepackte Koffer

  1. Vielleicht sollten wir alle mal ein wenig Zug fahren. Wie bei der Spielzeugeisenbahn in einem großen Kreis. Vielleicht würden wir auf der Fahrt vieles erkennen, vielleicht uns selbst. Und vielleicht steigen wir auch am Einstiegsbahnhof aus und trotzdem ist der Ort verändert.
    Vielen Dank für diese Geschichte

    Gefällt 1 Person

Kommentare sind geschlossen.